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Androgyne Schule gesucht

von HEIDE OESTREICH

Nicht nur der deutsche Bildungsdünkel erlebte mit der Pisa-Studie ein mittleres Erdbeben. Ein Nachbeben nämlich ereilte auch die inzwischen ebenso fest gefügte Ansicht, dass Mädchen in der Schule benachteiligt würden und gefördert werden müssten – „Mädchen stärken“, so der programmatische Titel eines dazugehörigen Buchs.

Es sind die Jungen, die Deutschland im Pisa-Test nach unten zogen: Besonders am Leseverständnis und an der kritischen Auseinandersetzung mit dem Gelesenen haperte es. Die Bedrohung der männlichen Leistungselite brachte die journalistischen Mütter der Nation in Fahrt: Problemfall Junge? Sie machten sich auf, Jungenwelten zu durchkämmen – und wurden fündig: Plötzlich rücken längst bekannte Tatsachen in ein neues Licht. Etwa, dass Sonderschüler und Schulversager mehrheitlich männlich sind, ganz zu schweigen von jugendlichen Gewalttätern. Als gute Eltern zeigte sich die Presse äußerst besorgt: „Arme Jungs“, titelte der Focus, Zeit und der Spiegel hatten bald darauf „die neuen Prügelknaben“ ausgemacht. Die Argumentation: Jahrelang hätten feministisch inspirierte Lehrerinnen die braven Mädchen bevorzugt und die Jungen mit ihrer vorlauten Art bekämpft. „Das Schulsystem benachteiligt die Jungen“, so das Verdikt der Zeit.

Männerquote für Grundschulen

Eines dürfte sicher sein: Wo ein Rollenvorbild fehlt, da ist das Risiko missglückter Identitätsbildung ungleich höher. Jungen, die ohne Männer aufwachsen, das zeigen zahllose Studien, neigen zu verzerrten Männlichkeitsbildern: Rambo hat seine glühendsten Fans unter den vaterlosen Jungs. Alte feministische Erkenntnis. Plötzlich aber werden Männer mit einer Forderung zitiert, die Frauen nicht mehr zu erheben wagen: Eine Männerquote für Grundschulen schlägt etwa der Hamburger Bildungsforscher Peter Struck vor. Doch benachteiligt die Schule die Knaben noch darüber hinaus? Ja, meint der Berliner Erziehungswissenschaftler Ulf Preuss-Lausitz. Mädchen erreichen sämtliche Schulziele leichter, so seine These: Ihre Leistungen und ihr Sozialverhalten seien besser und die „Power Girls“ von heute seien sicher auch mindestens ebenso selbstbewusst wie Jungen.

Klingt einleuchtend. Der Berliner Schulforscher Rainer Lehmann hat per Langzeitstudie in Hamburg herausgefunden, dass Mädchen bei gleicher fachlicher Leistung bessere Noten bekommen als Jungen. Beim Übergang in eine höhere Schule werden sie bei gleichen Leistungen eher für das Gymnasium empfohlen. Sind also die Schulen, die sich mit Selbstverteidigungskursen und Mädchengruppen „Mädchen stärken“ auf die Fahnen schrieben, nur Opfer feministischer Desinformation und Propaganda?

Die Berliner Professorin für Grundschulpädagogik, Renate Valtin, fordert Differenzierung: „Man muss unterscheiden zwischen schulischer Leistung und Selbstbewusstsein“, gibt sie zu bedenken. Denn die von Preuss-Lausitz ausgemachten „Power-Girls“ existierten zwar als Medienimages. In den Untersuchungen, die Valtin unter Berliner SchülerInnen machte, waren sie dagegen dünn gesät: Die Mädchen zeigten durchweg weniger Selbstbewusstsein als die Jungen. Besonders groß war die Diskrepanz bei den Mädchen im Ostteil der Stadt: Sie hatten die besten Schulleistungen – und dabei das geringste Selbstvertrauen von allen. Auch andere Studien zeigen: Zwar starten Mädchen mit ähnlich hohem Selbstwertgefühl in die Schule, aber ab einem Alter von zehn Jahren gibt es eben doch den berühmten Knick, nicht bei der Leistung, sondern beim Selbstvertrauen. Das habe vor allem mit eingeübten Rollenbildern zu tun, meint Valtin. „Mädchen haben zwar Erfolge, aber sie schreiben sie sich nicht zu“, so die alte Erfahrung mit weiblicher Bescheidenheit.

Doch den Schluss, dass die Jungs vor Selbstwertgefühl strotzten und deshalb bei ihnen bis auf eine leichte Leseschwäche alles okay sei, mag man angesichts der Probleme, die die Kerls bereiten, nicht so schnell ziehen. Der Pädagoge Gunter Neubauer, der sich seit Jahren mit Jungenarbeit beschäftigt, würde „lieber gar nicht mit dem Benachteiligungsbegriff arbeiten“. Man könne heterogene Gruppen wie „die Jungen“ oder „die Mädchen“ nicht unter eine solche moralisierende Kategorie fassen. Auch sei es fragwürdig, davon auszugehen, dass Mädchen nun mal braver und Jungs nun mal aufsässiger seien.

Beide Geschlechter sind verformt

„Beide Geschlechter kommen mit einschlägigen Sozialisationserfahrungen in die Schule“, so Neubauer, sie seien schon ge- oder verformt. So könne man durchaus in Mädchen wieder natürlichen Bewegungsdrang wecken. Jungen dagegen würden kaum besser gedeihen, wenn man ihnen weniger Aufmerksamkeit schenke, weil sie ja angeblich zu viel davon bekommen. „Man muss eher gucken, warum die da eigentlich so ein Theater veranstalten“, findet Neubauer. Vielleicht ja, weil sie merken, dass sie leistungsmäßig nicht so gut mitkommen.

Jungenarbeit ist gefragt, da sind sich die Antifeministen sogar mit den Feministinnen einig. Jetzt scheint es nur noch darauf anzukommen, dass nicht die Feindbilder verkehrt werden, sondern dass für beide Gruppen etwas getan wird, damit sie ansozialisierte Defizite ausgleichen können. Die Schule der Zukunft ist androgyn.

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