: Entrechtet, verfolgt, ermordet
Ewald Hanstein, Ehrenvorsitzender der Sinti- und Roma, liest im Lagerhaus aus seinen Erinnerungen
Auschwitz. Ein Name, der das bezeichnet, was gern verdrängt wird. Aber Vergangenheit vergeht nicht. Die Frage ist, wie man sich ihr stellt. Aus politisch-moralischer Pflicht wurde der Ausdruck Vergangenheitsbewältigung geboren, der so tut, als ließe sich Vergangenheit doch irgendwie entsorgen. Ein besonders unangenehmes Beispiel hierfür ist das Genre des Nazizeit-Kostümfilms. Im Gegensatz dazu steht das Recht der Toten auf würdige Erinnerungsarbeit, die Konfrontationen nicht scheut, in Gesichter sieht, Schreie hörbar macht. Und so das moralisches Empfinden sowie die demokratische Wachsamkeit schärfen möchte.
Daran arbeitet Ewald Hanstein: Geboren am 8. April 1924, Auschwitzhäftling Nummer Z 8181, Buchenwaldhäftling Nummer 74557, Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande. Eine Stimme, die gehört zu werden verdient, leise, unaufgeregt. „Für die jungen Leute, die nichts vom Nationalsozialismus hören wollen“, mache er seine Leidensgeschichte öffentlich. Damit alle wissen, dass nicht nur Juden und Antifaschisten, sondern auch die Sinti und Roma im Zuge der Nürnberger Nazi-Gesetzgebung als „fremdrassig“ definiert, systematisch entrechtet, verfolgt und ermordet wurden. „Ich kann, ich muss darüber berichten“, betont Hanstein. Er sei in Bremen der letzte von sechs noch lebenden Sinto, der die unvorstellbaren Grauen der Konzentrationslager erlebt hat und den Traumatisierungen zum Trotz darüber berichten könne, erläutert der Vorsitzende des Bremer Sinti Vereins, Manfred Walter.
Journalist Ralf Lorenzen hat den in Breslau aufgewachsenen Hanstein über ein Jahr lang begleitet und die Erinnerungen des Sinto in der ersten Person Singular aufgeschrieben: betont nüchtern und gerade dadurch eine bezwingende Wahrhaftigkeit gewinnend, die den Leser bei den Gefühlen packt. An vielen Stellen der Dokumentation könnte man weinen – einfach, weil es wirklich so gewesen ist. Man erfährt, was Vernichtung durch Zwangs-Arbeit bedeutet, wie Kinder einfach totgeschlagen werden, sich Menschen mit dem eigenen Urin waschen müssen oder lieber den Tod im 6.000-Volt-Sicherheitszaun suchen als dem eigenen Verhungern weiter zusehen zu müssen.
Seit der Premieren-Lesung 2005 in der Buchhandlung Leuwer und einer Veranstaltung im Schlachthof sei dieses die dritte Buchpräsention in Bremen, erzählt Lorenzen, das Publikum also langsam abgegrast. Nur gut zwei Dutzend Zuhörer haben sich eingefunden. Auch sei das Buch kein Bestseller: Ex-Bürgermeister Henning Scherf ließ für Bremens Schulen 1.000 Exemplare erwerben, nicht mal annähernd so viele seien seither über den Ladentisch gegangen. JENS FISCHER
Ewald Hanstein : Meine hundert Leben, Donat, 12,80 €
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen