: Der Text ist eine Baustelle
Heute Abend eröffnet die Leipziger Buchmesse. Literarisch schreiben lernen konnte man vor Ort schon in den Fünfzigerjahren. Und noch immer studieren am Deutschen Literaturinstitut Leipzig einige der jungen Erfolgsautoren, wie man Regeln vermeidet
von SUSANNE MESSMER
Eine Studentin in der Runde rutscht auf ihrem Stuhl sehr viel unruhiger herum als die anderen. Heute soll es um ihre Geschichte gehen. Ihr Dozent und ihre Kommilitonen, die meisten erst um die zwanzig, sind nur deshalb zusammengekommen. Der Text handelt von einer Tochter, die nicht einmal davor zurückschreckt, ihrer Mutter eine Salbe gegen Scheidenpilz aufzutragen. Man erfährt, dass die Mutter vor Jahrzehnten auf einem Trip hängen geblieben sein muss, das meint zumindest die Tochter. En passant erschließt sich aber auch, dass die Mutter noch immer ihrem Beruf nachzugehen in der Lage ist. Langsam entwickelt man Misstrauen gegen diese Tochter.
Der erste Einwand, der aus der Runde kommt: Eine Kommilitonin will wissen, was mit der Mutter los ist, das sei ihr alles zu wenig erklärt. Eine andere Studentin ergänzt, die Tochter sei zu selbstzufrieden, als dass zwischen den Figuren noch etwas passieren könne. Auch der Dozent, Josef Haslinger, wendet ein: „Könnte es sein, dass Sie sich die Geschichte gerade erst erschreiben?“ Die Autorin schnappt nach Luft. Mehr zu erklären, das würde sie langweilig finden, wehrt sie sich. Dann sieht sie ein: „Ich glaube, ich habe die Tochter zu cool gemacht.“ Andererseits: Besteht nicht gerade der Reiz der Geschichte in der zweifelhaften Perspektive der Tochter? Diese Meinungsverschiedenheit wird nicht beigelegt. Erst als es um Konkreteres geht, löst sich die Spannung. Falsche Zeitsprünge werden aufgespürt, einen „sterbenden Stern“ nimmt die junge Autorin vergnügt als Stilblüte an.
Wir befinden uns in einem der schönsten Viertel Leipzigs in einem Raum einer lichtdurchfluteten Villa – im Deutschen Literaturinstitut. Geht man davon aus, dass hier alle Seminare so produktiv und sachlich ablaufen wie dieses, ohne Hiebe unter die Gürtellinie und ohne Konkurrenzdruck, dann muss man annehmen: Hier kann man schreiben lernen. Der Kniff ist ganz einfach. Anstatt Regeln dafür aufzustellen, was gute Literatur zu sein hat, ergeben sich die Regeln von Text zu Text neu.
Es geht darum, die Intentionen der Texte herauszuschälen, dann zu besprechen, was an ihnen nicht in diesem Sinne funktioniert, aber auch, welche Möglichkeiten sie haben, die noch nicht ausgeschöpft sind. Was hier gelehrt wird, ist kein Kanon, sondern die Fähigkeit, sich aus Texten, auch den eigenen, herauszukatapultieren – sich ihre Machart bewusst zu machen. Man kann nachschlagen, wie andere Autoren ähnliche Probleme gelöst haben, ein klassisches Muster allerdings, auf das man sich immer beziehen könnte, wird hier nicht angestrebt.
In den letzten Jahren sind immer mehr erfolgreiche Debüts von Autoren erschienen, die in Leipzig studieren oder studiert haben: Von Tobias Hülswitt, Julie Zeh, im letzten Herbst Ricarda Junge, in diesem Frühling Volker H. Altwasser mit seinem Roman „Wie ich vom Ausschneiden loskam“ (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003, 204 S., 8,90 Euro). Immer mehr Verleger und Agenten beobachten das Literaturinstitut genauer, und auch eine Jahresanthologie der Studierenden, die unter dem Titel „Tippgemeinschaft“ in diesen Tagen zum ersten Mal im Eigenverlag erscheint (ISDN 3-00-011120-4, 163 S., 10 Euro) und Texte von 33 der 60 Studierenden versammelt, wird im nächsten Jahr sicher bei einem größeren Verlag herauskommen.
Immer mehr Leute wollen es auf sich nehmen, sich hier in sechs Semestern zum Diplomschriftsteller ausbilden lassen – ohne Aussicht auf anschließenden Brotberuf. Sie machen Scheine, sie besuchen Prosawerkstätten, aber auch Seminare zu Lyrik, Dramatik, Drehbuch, Essay, Literaturgeschichte und Literaturkritik. Sie studieren bei den beiden Professoren, den Autoren Josef Haslinger und Hans-Ulrich Treichel, aber auch bei anderen prominenten Schriftstellern, bei Gastdozenten wie Marcel Beyer, John von Düffel, Thomas Hürlimann, Sten Nadolny oder Herta Müller.
Josef Haslinger, der eben noch mit viel Feingefühl seiner Studentin beigebracht hat, dass sie ihren Text über das verzwackte Mutter-Tochter-Verhältnis überarbeiten muss, sitzt in seinem Büro und freut sich mit diesem bestimmten Wiener Schmäh, weil er nur aufgewärmten Kaffee anbieten kann. Er, der als Autor vor allem mit seinem Politthriller „Opernball“ bekannt geworden ist, erzählt, wie er während der Jahre als Redakteur bei der Literaturzeitschrift Wespennest vor allem von seinem literarischen Lehrer Gustav Ernst profitieren durfte. So, wie aus dem Dialog Platons mit seinen Schülern die Akademie hervorgegangen sei, so solle die Auseinandersetzung zwischen Erfahrenen und weniger Erfahrenen der Grundstein dieser Schule sein, erklärt er. Dann lacht er wieder und beginnt, ernsthaft zu berichten.
Denn eigentlich sind es zwei ganz andere Traditionen, auf die sich das Deutsche Literaturinstitut bezieht – und von denen es sich vor allem abgrenzt. Da wäre zum einen das Institut Johannes R. Becher in der DDR, 1955 in den Räumen des Deutschen Literaturinstituts gegründet, wo Autoren der Sozialistische Realismus eingetrichtert werden sollte. Auch wenn sich die Kaderschule im Laufe der Jahre zu einer Schule der Dissidenten entwickelte, auch wenn fast jeder bekannte DDR-Schriftsteller von Sarah Kirsch und Erich Loest bis Christa Wolf hier war, käme am Literaturinstitut heute niemand auf die Idee, an das Becher-Institut anzuknüpfen. Weder will heute noch jemand etwas von sozialistischen Utopien wissen noch von den Möglichkeiten, Kritik zu üben und sie gleichzeitig geschickt zu verstecken.
Ebenso grenzt man sich hier aber auch von der anderen großen Tradition der Schreibschule ab, dem Creative Writing, das in den USA heute zum Allgemeinwissen gehört. Was Creative Writing lehrt – dass Helden leiden müssen, böse Gegenspieler brauchen, dass der Ernstfall unbedingt eintreten, dass es Tote geben muss – damit will man am Literaturinstitut nichts zu tun haben.
Das klingt alles sehr schön. Aber ist nicht auch an diesem Institut ein bisschen Vereinsmeierei im Spiel? Ist es nicht eigentlich das Schöne am Lesen und Schreiben, dass man dabei schön bei sich bleiben darf? Haben Autoren heute nicht eher zu viel zu tun mit der Organisation von Lesungen, Interviews, Stipendien und Preisen? Wenn es so viel Spaß macht, das Schreiben zu lernen, warum kann man dies in Deutschland an nur so wenigen Orten tun – neben dem Literaturinstitut sind es eigentlich nur noch Hanns-Josef Ortheils Studiengang Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim, das Studio Literatur und Theater an der Uni Köln, die „Schule des Schreibens“ der Hamburger Axel-Andersson-Akademie, die Autorenwerkstätten des Münchener Literaturhauses und des Literarischen Colloquiums in Berlin. Warum lernt man schon in den Grundschulen Musik oder Malen, nicht aber die Kunst des Schreibens?
Vielleicht liegt es ja am Geniekult, der hierzulande noch stärker nachwirkt als anderswo, an der Idee, dass Begabung angeboren ist – eine Vorstellung, mit der sich Ende des 18. Jahrhunderts Autoren des Sturm und Drang gegen das enge Korsett aus Gattungsnormen, Stillehren und thematischen Vorgaben der Poetik der Aufklärung stemmten.
Diesem Geniekult scheint am Deutschen Litertaurinstitut niemand mehr nachzuhängen. Ob man nach der Beendigung des Studiums in der Lage sein wird, ein gutes Buch zu schreiben – das, denkt man hier, hängt weniger von Begabung ab als vom individuellen Enthusiasmus, der Opferbereitschaft, die man dann aufzubringen bereit ist. Und auch vergrübelte Dichter bekommt man nicht zu Gesicht. Im Gegenteil: Eher geht es hier zu wie an jedem kleinen Fachbereich an jeder kleinen Universität. Vor und nach den Seminaren wird in den Fluren geraucht, Automatenkaffee getrunken, getratscht – und mittags geht es zusammen in die Mensa. Bei Spiralnudelmatsch mit Fertigtomatensoße erzählen Bov Bjerg und Philip Meinhold aus Berlin, zwei der ältesten Studenten am Institut, warum es sie nach Leipzig verschlagen hat.
Bov Bjerg, Jahrgang 1965, liest und schreibt seit mehr als zehn Jahren für verschiedene Berliner Lesebühnen. Doch hat ihn seine Erfahrung nicht davon abgehalten, noch einmal das Schreiben zu studieren: „Ich will endlich etwas schreiben, das nicht auf Zuschauerreaktionen spekuliert.“ Er meint, dass man Schreiben auch noch lernen muss, wenn man bereits schreibt. Ob er, wenn er hier zu Ende studiert hat, besser schreiben wird, diese Frage kann er nicht beantworten. Auf jeden Fall wird er bewusster lesen können – fremde Texte ebenso wie eigene. Philip Meinhold, Jahrgang 1971, ging es nicht anders: Auch er ist übers Schreiben darauf gekommen. Bei der Arbeit an seinem Erstling „Apachenfreiheit“ ist er auf Probleme gestoßen, „einfache, aber elementare Dinge“, wie er sagt, „wie man zum Beispiel ein Kapitel beendet und ein neues beginnt oder wie man die Erzählperspektive wechselt.“ Ob er Angst hat, dass ihm durch solche Regeln der individuelle Stil ausgetrieben wird? „Ach was. Hier gibt es doch gar keine einheitlichen Regeln.“
Ob sich in Leipzig wirklich niemals Normen und Prinzipien festsetzten, die sogar zu einem Institutsstil führen könnten, dazu gilt es, ein weiteres Seminar zu beobachten. In der Prosaübung von Hans-Ulrich Treichel, der vor allem leicht und realistisch erzählte Prosabände veröffentlicht hat, stellt ein junger Autor einen Text vor, der zunächst noch von ein paar Freunden erzählt, die zusammen Gotcha spielen. Dann landen die Helden abrupt mitten im Nibelungenlied. Auf Nachfragen erklärt der Autor, er finde Brüche gar nicht so schlecht. Allgemeine Ratlosigkeit. Hans-Ulrich Treichel wirft ein, er habe diese ganzen Zitate überlesen, weil er erfahren wollte, wie es weitergeht. Später wird er im Gespräch zugeben: „Man versucht immer, für Kohärenz zu plädoyieren, aber sofort wird man mich mit einem Stück Weltliteratur widerlegen können, das von Stilbrüchen lebt.“ Niemand im Seminar scheint zu wissen, wie man eine Geschichte beurteilen soll, die Fantasy sein will. Man fragt sich sofort, wie die Runde reagieren würde, wenn jemand plötzlich einen Jerry Cotton vorlegen würde. Oder einen Text, der Bestseller werden will.
Vielleicht gibt es sie also doch, die Gefahr, die hier alle versuchen zu vermeiden: Dass aus den Regeln, die von Text zu Text neu erfunden werden sollen, Gesetze werden. Vielleicht war dies einer der Gründe, warum Michael Lentz im letzten Wintersemester Gastdozent wurde. Lentz hat über Lautpoesie promoviert und seine Prosa lebt nicht wie die seiner Kollegen Hans-Ulrich Treichel und Josef Haslinger von Plots oder Spannungsbögen. Seine Prosawerkstatt hat er mit den Worten beschrieben: „Inkohärenz kann ein Erzählmuster sein, das Kohärenz stiftet“.
In seinem Seminar wirkt er im ersten Moment wirr, dann aber wird schnell deutlich, dass er sich nur zurücknehmen will. Seine Stunde erinnert an einen Hindernislauf, der allem ausweicht, was bindend werden könnte. Wiederholt macht er klar, dass seine Sichtweise nur eine unter vielen ist. Bei der belanglosen Liebesgeschichte, die eine Studentin vorlegt, lobt er hartnäckig, „dass nichts Eigentliches passiert“, wünscht sich aber weniger „Felsbrocken von Traditions- und Bildgeröll“ – auf eine Wertung, wie er den Text unterm Strich wirklich findet, muss die Studentin verzichten. Obwohl sie nun sicher nicht mehr darüber weiß, was eine gute Liebesgeschichte sein soll, eins weiß sie ganz sicher: Man kann große Gefühle heute nicht mehr mit dem Bild eines heraufziehenden Gewitters einfangen.
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