ein arabisches tv-tagebuch: Sélim Nassib über den Irakkrieg auf al-Dschasira
Waten in der Bilderflut
Alles wird gezeigt: die schrecklichen Bilder der zivilen Opfer aus al-Hilla, die Kämpfe um Nadschaf, Kerbela, Nassirija, das Trommelfeuer der Republikanischen Garden im Süden Bagdads, die Bomben auf die Hauptstadt und auf Basra, die Befreiung der jungen amerikanischen Soldatin Jessica Lynch. In der Region von Mossul beweint die kleine christliche Stadt Bartala ihre Toten, die bei einer Bombardierung ums Leben gekommen sind, und man erfährt einige der Vornamen: Madeleine, Valentine, Marie.
Alles ist da, der Besuch des US-Außenministers Colin Powell in Ankara, die Kurden, die Kirkuk durch den Feldstecher betrachten und das Erscheinen der türkischen Armee befürchten. Bahrain, das einen irakischen Diplomaten ausweist, der französische Außenminister, der die Amerikaner der Freundschaft Frankreichs versichert, und die nicht enden wollenden Pressekonferenzen der amerikanischen, britischen und irakischen Militärs.
Die zwei letzten Ansprachen von Saddam Hussein werden wortgetreu übertragen. Warum ist es nicht er selbst, der sie verliest? Al-Dschasira beantwortet diese Frage nicht, sondern gibt dem Vertreter des Pentagon das Wort. Dieser erklärt, Saddam sei vielleicht tot. Der frühere Kabinettschef des Königs von Jordanien stellt klar, dass die Gerüchte über einen möglichen Tod Teil der Kriegspsychologie der Amerikaner und Briten seien.
Die Korrespondenten des Senders vor Ort wie auch zahlreiche externe Analytiker benutzen ein Vokabular, welches das Bild eines Volkes untermauert, das der ausländischen Invasion heldenhaft widersteht. Doch als die Granaten auf das Hotel fallen, in dem die Crew von al-Dschasira wohnt, ruft diese alle Kriegsparteien zum Respekt vor den Journalisten auf, die für keine Seite Partei ergriffen.
Alles ist gesagt, nichts wird versteckt. Aber alle arabischen Zuschauer müssen selbst ihre Schlussfolgerungen ziehen und sich eine Meinung bilden über das, was wirklich passiert.
Denn die Bilder von massakrierten Zivilisten sind schrecklich, die Aufrufe zum Dschihad allgegenwärtig, und über die Verluste, die den Amerikanern und Briten beigebracht werden, wird sorgfältig berichtet. Dennoch bleibt, dass der ölreiche irakische Süden den Briten quasi intakt in die Hände gefallen ist, der Widerstand in Nadschaf, Kerbela und Nassirija gebrochen oder überrannt. Die amerikanische Armee steht vor Bagdad.
Bis dahin war al-Dschasira das Sprachrohr einer arabischen Öffentlichkeit, die der Invasion zutiefst feindlich gesinnt war. Was wird der Sender machen, wenn das irakische Regime in sich zusammenstürzt und sich, mit abnehmender Angst, die Zungen der Opfer Saddams lösen? SÉLIM NASSIB
Sélim Nassib begleitet in seiner Kolumne die Berichterstattung des arabischen TV-Senders al-Dschasira
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