ein arabisches tv-tagebuch: Sélim Nassib über den Irakkrieg auf al-Dschasira
Die ungeteilte Freude der Kurden
Auf einer Bahre, die von ausgestreckten Armen getragen wird, eröffnen eine Kamera, ein Mikrofon und eine schusssichere Weste die Prozession. Eine kleine Gruppe von Journalisten folgt wütend dem, was die Reste von Tarek Ayoub symbolisieren soll, dem Korrespondenten von al-Dschasira, der in Bagdad von einer amerikanischen Bombe getötet wurde. Diese Szene spielt in Ramallah, in Palästina.
Eine andere Kundgebung findet zum gleichen Zeitpunkt in den Straßen der jordanischen Hauptstadt statt. Überall sind Fotos des „Märtyrers“ zu sehen, im Kreise seiner Familie, seiner kleinen Tochter und seiner Verwandten. „Schwärzer als schwarz war der Tag, an dem er ermordet wurde“, sagt der Nachrichtensprecher. „Das haben sie getan, um vor den Augen der Welt die Gräueltaten zu verbergen, die sie im Irak begehen. Sie können Journalisten töte, aber nicht die Wahrheit.“
Millionen Fernsehzuschauer von al-Dschasira finden eine ihnen vertraute Darstellung wieder: Der amerikanische Feind ist den Arabern zutiefst feindlich gesinnt, er bombardiert sie, begehrt ihr Öl und schert sich nicht um das Recht, das sein israelischer Verbündeter in Palästina mit Füssen tritt. Der einzige Unterschied ist, dass Tarek Ayoub kein Märtyrer der „arabischen Sache“ ist, sondern einer der „Informationsfreiheit“.
Ungeachtet der Kritik an Saddam Hussein steht das Problem des orientalischen Despotismus und der Art, wie man ihn beseitigt, nicht wirklich auf der Tagesordnung. Al-Dschasira strahlt die Äußerungen von Tony Blair und George W. Bush aus, die für die Einweihung des neuen irakischen Fernsehens aufgezeichnet wurden. Angesichts der allgemein antiamerikanischen Atmosphäre klingen ihre Versprechen den Irakern den Reichtum des Landes zurückzugeben sowie auf eine Demokratisierung hohl.
Die ungeteilte Freude der Kurden in der Ölstadt Kirkuk steht im Gegensatz zum vorherrschenden Diskurs. Die Bilder der Peschmergas, die siegessicher ihre Waffen schwenken, und der ununterbrochene Jubel der Frauen sprechen für sich. Derweil werden Porträts und Statuen von Saddam Hussein systematisch zerstört.
Die Kurden feiern, wie es sich gehört, den Fall des verhassten Tyrannen, der es gewagt hat, sie durch den Einsatz von Giftgas zum Schweigen bringen zu wollen. Al-Dschasira berichtet von diesem Ereignis und gibt den Akteuren das Wort. Aber die Kurden, Verbündete der Amerikaner und sunnitische Muslime, sind keine Araber. Ihr Eindringen in die befreite Stadt Kirkuk – ist das schon Teil einer eventuellen Demokratisierung des Iraks oder lediglich einer Inbesitznahme der Ölregion zum Vorteil der Amerikaner? Diese Frage ist zentral für den Fortgang der Ereignisse – aber auch für die Rolle, die al-Dschasira in einer arabischen Welt spielen will, die durch den Fall Saddam Husseins aus dem Gleichgewicht geraten ist.
SÉLIM NASSIB
Sélim Nassib begleitet in seiner Kolumne die Berichterstattung des arabischen TV-Senders al-Dschasira
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