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ein arabisches tv-tagebuchDer Schriftsteller Sélim Nassib über den Irakkrieg aus der Perspektive von al-Dschasira

Landschaft nach der Schlacht

Auf CNN wie auch auf BBC tragen die ersten Bilder, die den Einzug der Marines in Tikrit zeigen, das Logo von al-Dschasira. Der Sender war offensichtlich der erste vor Ort. „Die Einwohner haben den Sieg des amerikanischen Militärs als vollendete Tatsache akzeptiert“, sagt der Kommentator, „aber einige unter ihnen haben ihre Waffen behalten, um sich einem eventuellen Einzug der Peschmergas zu widersetzen.“

Die Kurden haben so sehr unter dem alten Regime gelitten, dass die Geburtsstadt Saddams nun Vergeltung fürchtet. Der Korrespondent beschreibt das Wohnviertel al-Ojeh, Stammrevier des Regimes, mit seiner paradiesischen Lagune, seinen Palmenhainen, seinem wahnwitzigen Luxus, seinen zerstörten Palästen und verwaisten Villen. „Takrit selbst ist völlig anders“, ergänzt er. „Es zählt zahlreiche Armenviertel, die glücklicherweise kaum von den Bombardements betroffen waren.“

Der Fall der letzten wichtigen irakischen Stadt nimmt nur einen vergleichsweise kleinen Raum der Nachrichten ein.

Die zahlreichen Korrespondenten des Senders im Irak nutzen die eingekehrte Ruhe, um ihrem Publikum eine Reihe von Reportagen zu bieten, welche die Lage nach der Schlacht schildern. In verschiedenen Städten filzen mit Pistolen bewaffnete Zivilisten die Autos bei der Einfahrt (um nach Waffen zu suchen) wie auch beim Verlassen ihrer Viertel (um die Beute der Plünderer sicher zu stellen). In Mossul beklagen sich arabische Stämme – ohne so recht zu wissen, bei wem – über Drohungen seitens „bewaffneter Elemente“, um sie zu zwingen, ihre Häuser aufzugeben. In al-Thaoura, im Osten der Hauptstadt, gibt der Sender jenen berühmten „arabischen Freiwilligen“ das Wort, die gekommen waren, um gegen die Amerikaner zu kämpfen, und jetzt komplett verloren wirken.

Die veränderte politische Landschaft nach der Schlacht – etwa in Israel, wo Scharon seine Mitbürger zu schmerzhaften Konzessionen auffordert – wird mit Skepsis betrachtet. „Es handelt sich um einen neuen israelischen Schachzug, um sich dem neuesten Friedensplan (der „Road Map“) zu entziehen, dessen Veröffentlichung bevorsteht“, meint ein Analytiker. Die Drohungen, die Präsident Bush gegen Syrien vorbringt, werden sehr ernst genommen. Syrische Offizielle vervielfachen ihre Dementis auf dem Sender („Wir verfügen nicht über Massenvernichtungswaffen, wir verstecken keine irakischen Exverantwortlichen“). Währenddessen erklärt ein Sprecher einer syrischen Menschenrechtsorganisation von Paris aus, das er es vorziehe, „im Exil zu sterben als auf einem US-Panzer in mein Land zurückzukehren“.

Der militärische Sieg der Amerikaner hat offensichtlich noch keine tief greifende Revision bisheriger Positionen nach sich gezogen. Die öffentliche Meinung in der arabischen Welt, wie al-Dschasira sie reflektiert, wirkt verhärtet, in misstrauischer Erwartung der weiteren Zukunft, von der man sich nicht allzu viel Gutes erwartet. SÉLIM NASSIB

Sélim Nassib begleitet in seiner Kolumne die Berichterstattung des arabischen TV-Senders al-Dschasira

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