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Die Bildung kennt ihre Grenzen nicht

Kleine Soziologie der Erziehung (1): Die Krise der Kindergärten, Schulen und Universitäten hat damit zu tun, dass sich Bildungseinrichtungen nicht als Selbstzweck setzen dürfen. Sie sind Mittel zum Zweck im staatlichen Bildungsauftrag. Beginn einer sechsteiligen Serie zur Theorie der Pädagogik

VON DIRK BAECKER

Man muss es als ein weiteres Krisenzeichen werten. Es gibt eine Kritik der Politik unter dem Gesichtspunkt des reinen Machterhalts (Machiavelli), es gibt eine Kritik der Wirtschaft unter dem Gesichtspunkt des Geld heckenden Geldes (Marx), es gibt eine Kritik der Kunst unter dem Gesichtspunkt des L’art pour l’art (Mallarmé), es gibt eine Kritik der Wissenschaft unter dem Gesichtspunkt der bloßen Gelehrsamkeit (Bachelard), aber es gibt keine Kritik der Erziehung unter dem Gesichtspunkt der Erziehung um der Erziehung willen. Der bekannte Spruch „non scholae sed vitae discimus“ dient ja nicht etwa dazu, ein entfaltetes Schulsystem zu kommentieren, sondern dazu, jede Entfaltung auf ein minimales Maß zu beschränken.

Was ist in der Erziehung schief gelaufen? Warum fehlt ihr eine Kritik, die in der modernen Gesellschaft der Beleg einer gelungenen Ausdifferenzierung ist? Was hindert sie daran, so autonom zu werden wie die anderen Funktionssysteme der Gesellschaft? Warum konnte Niklas Luhmann Bücher über die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Kunst, das Recht, die Politik und die Religion der Gesellschaft schreiben, sein Buch über die Erziehung dann jedoch nur unter dem Titel „Das Erziehungssystem der Gesellschaft“ (Suhrkamp Verlag, 2002) konzipieren? Wäre ein Titel wie „Die Erziehung der Gesellschaft“, der als Serientitel zu erwarten gewesen wäre, eine allzu missverständliche Verbeugung vor den überzogenen Ansprüchen der Pädagogen gewesen?

Rudolf Steiner hat das Problem bereits 1919 in seiner Schrift über „Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft“ auf den Punkt gebracht: „Diese Schrift muß die heute wenig beliebte Aufgabe übernehmen, zu zeigen, daß die Verworrenheit unseres öffentlichen Lebens von der Abhängigkeit des Geisteslebens vom Staate und von der Wirtschaft herrührt. Und sie muß zeigen, daß die Befreiung des Geisteslebens aus dieser Abhängigkeit den einen Teil der so brennenden sozialen Frage bildet.“ Nachdem man lange Zeit in der „Übernahme des Erziehungswesens durch den Staat“ etwas Heilsames erblickt habe, käme es jetzt darauf an, einzusehen, dass hierin ein „schwerer sozialer Irrtum“ liege.

Hat die Krise unserer Kindergärten, Schulen und Universitäten damit etwas zu tun, dass sie sich allesamt nicht als Selbstzweck setzen dürfen, sondern Mittel zum Zweck im staatlichen Auftrag sind? Und setzt sich die Krise weniger darin fort, dass dieser staatliche Auftrag an Bestimmtheit verliert, als vielmehr darin, dass er überhaupt noch aufrechterhalten wird? Haben wir es so lange mit einer „Bildungskrise“ zu tun, wie wir daran festhalten, dass der Geist „staatlich bewirtschaftet“ wird, wie es im Titel eines 1993 erschienen Buches von Konrad Schily heißt?

Ein sozialer Organismus sei nur lebensfähig, wenn es ihm erlaubt werde, das materielle Verhältnis des Menschen zur Außenwelt (die Wirtschaft), das Verhältnis des Menschen zum Menschen (die Politik und das Recht) sowie das Verhältnis des individuellen Menschen zu sich selbst (Erziehung und Geistesleben) abhängig und unabhängig voneinander, das heißt in Verhältnissen des Eigenlebens, zu regeln, heißt es weiter bei Rudolf Steiner, der damit die Grundidee einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft zum Ausdruck bringt, wie sie von Auguste Comte bis Niklas Luhmann die Soziologie beschäftigt hat.

Die Antwort der Anthroposophen auf die Diagnose Steiners war die Gründung von freien Kindergärten, freien Schulen und einer freien Universität. Die Soziologie kann dieser Arbeit an der Ausdifferenzierung einer freien Erziehung nur zu Hilfe kommen, indem sie Beobachtungsinstrumente bereitstellt, die dort Unterscheidungen treffen, wo man bisher gar nicht weiß, worauf man achten soll. Schon Talcott Parsons hat in seinem großen Buch über „Die amerikanische Universität“, das er 1972 mit Gerald M. Platt veröffentlicht hat, davon gesprochen, dass das Problem der Erziehung darin liege, dass sie zugleich unter einer Inflation und einer Deflation des Vertrauens in die Erziehung leide. Sie übertreibt ihre Absichten, indem sie die ganze Gesellschaft in einen Lernzusammenhang verwandelt. Und sie untertreibt ihre Möglichkeiten, indem sie in Kindergärten, Schulen und Universitäten dem Lernen durch die Lehre allzu scharfe Beschränkungen auferlegt.

Wenn diese Diagnose zutrifft, die Parsons und Platt übrigens für eine noch heute lesenswerte Erklärung der Studentenbewegung der 1960er-Jahre als „deflationäre Panik“ (Angst vor dem Prestigeverlust der universitären Erziehung) nutzen, liegt die soziologische Diagnose der gegenwärtigen Probleme auf der Hand. Es mangelt der Erziehung an „Limitationalität“. Sie kennt ihre eigenen Grenzen nicht und schafft es daher auch nicht, innerhalb ihrer Grenzen an einem problemgenauen Ausbau ihrer Möglichkeiten zu arbeiten.

Eine soziologische Beschreibung kann hier weiterhelfen, wenn man einmal davon ausgeht, dass die Soziologie jene Form der Selbstbeobachtung der Gesellschaft ist, die zwar innerhalb einer ganz bestimmten Ecke der Gesellschaft, in einer mehr oder minder bedeutenden Fachdisziplin der Wissenschaft, vorgenommen wird, dort jedoch als ein Kommunikationsangebot ausgearbeitet wird, das in anderen sozialen Systemen durchaus gehört und aufgenommen werden kann. In diesem Sinne ist es ein gutes Zeichen, dass die Erziehungswissenschaften seit langem Wert darauf legen, zunächst unter der Moderation von Karl-Eberhard Schorr und heute von Dieter Lenzen die von Luhmann vorgelegten Überlegungen zur Erziehung zeitnah aufzugreifen und für die Zwecke des Systems umzuarbeiten.

Wie also kann die Soziologie dazu beitragen, dem Erziehungssystem jene Limitationalität, jenen Sinn für die eigenen Grenzen, zu vermitteln, die ihm bis heute fehlen?

Die gegenwärtig am weitesten entwickelte Soziologie der Erziehung stammt in der Tat von der soziologischen Systemtheorie und besteht in der Erprobung der an anderen sozialen Systemen bis hin zum Gesellschaftssystem bereits bewährten Unterscheidungen am Fall der Erziehung. Meines Erachtens lohnt es sich hierbei, Überlegungen von Talcott Parsons und Niklas Luhmann miteinander zu kombinieren, obwohl Luhmann den wichtigsten Vorschlag von Parsons, die Universität als „Intelligenzbank“ zu verstehen, nie übernommen hat, sondern für die Universität sicherlich aus der eigenen Anschauung immer Beschreibungen gefunden hat, die darauf hinauslaufen, sie als ein eigenes „Milieu“ („Universität als Milieu“, Haux Verlag, 1992) zu würdigen, über das man sich letztlich nur wundern kann.

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