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„Soziale Kämpfe werden wichtiger“

Kleine Gruppe mit langer Tradition: Anarcho-Syndikalisten eröffnen nach 70 Jahren wieder ein Lokal. Für sie beginnt der Kampf für ein besseres Leben im Arbeitsalltag. Zentralistische Organisationen wie Parteien und Gewerkschaften lehnen sie ab

„In Paris müsste ich für das gleiche Lebens- niveau viel mehr jobben“, sagt Sylvie

von RICHARD ROTHER

Außen über der Eingangstür prangt ein rotschwarzer Stern, akkurat gemalt. Drinnen sind an beigen, frisch gestrichenen Wänden Politplakate der linken Szene ordentlich aufgehängt, sogar die Fensterscheiben wirken geputzt – das anarchosyndikalistische Gewerkschaftslokal, das heute nach 70-jähriger Absenz in Prenzlauer Berg eröffnet wird, verbreitet nicht den Charme von Chaos, Aufruhr und Unordnung, eher erinnert es an den gemütlichen Treffpunkt einer Bürgerini.

Dabei hat die Freie ArbeiterInnen Union (FAU), in der nach eigenen Angaben in Berlin rund 30, bundesweit rund 200 Mitglieder organisiert sind, nichts Geringeres als die Abschaffung des Kapitalismus zum Ziel. „Wir stehen für einen libertären Kommunismus“, sagt Hansi. Der 31-jährige Student, der als Filmvorführer in einem Alternativkino arbeitet, trägt ein passendes T-Shirt: „Bread and Roses“ steht auf der Brust, eine Erinnerung an das Revolutionsdrama des britischen Filmemachers Ken Loach, das in der Zeit des Spanischen Bürgerkrieges spielt. Wie der Kommunismus aussehen wird, ist aber noch unklar. „Das ist ein Prozess“, philsophiert Hansi. Zunächst müssten die Menschen ihr Leben in die eigene Hand nehmen, vor allem im Alltag für ihre Rechte kämpfen.

Sylvie sieht das ähnlich. Seit fünf Jahren ist die 26-jährige Französin in Berlin und von Anfang an bei der FAU dabei, nachdem sie zuvor in einer französischen Partnerorganisation war. „Die sozialen Kämpfe werden auch in Deutschland wichtiger“, sagt die Geschichtsstudentin, dies sehe man schon an der Hartz-Debatte.Vielleicht sei die Gruppe auch deshalb innerhalb der letzten Jahre angewachsen – von 5 auf 30 Mitglieder. In Berlin zu sein, hat für die Französin aber auch einen einfachen Grund: Hier sei es einfacher, vom Jobben zu leben, als etwa in Paris. „Dort müsste ich für das gleiche Lebensniveau viel mehr arbeiten.“ 6,20 Euro pro Stunde verdient sie hier als Kellnerin, ohne Trinkgeld. Nicht die Welt, aber bei den vergleichsweise niedrigen Mieten und Preisen offenbar ausreichend.

Auf ihrem Weg zum großen Ziel scheuen die beiden Aktivisten nicht die Mühen der Ebene – Widerstand fängt für die Anarcho-Gewerkschafter im Alltag an, vor allem bei der Arbeit. Als einmal einem schwarz arbeitenden Mitglied der Lohn verweigert wurde, stand bald ein Trupp Aktivisten vor dem Büro des Chefs. „Der hat die Öffentlichkeit gescheut und sofort bezahlt“, berichtet Hansi nicht ohne Stolz. Ein anderes Mal habe es ausgereicht, einen Brief zu schreiben. Große Wirkung, wenig Aufwand – manch Inkassounternehmen wäre darüber wohl glücklich.

Misserfolge blieben allerdings nicht aus. Vor zwei Jahren hätten spanische Genossen eine Baustelle in Prenzlauer Berg besetzt, berichten die Aktivisten. Der Grund: Ein Subunternehmer hat ausstehende Löhne nicht ausgezahlt. Am Ende gaben die streikenden Bauarbeiter aber auf. Die Geschichte klingt wie ein moderner Wildwestschinken: Der Unternehmer habe den Kofferraum seines Wagens vor den Augen der Streikenden geöffnet, darin habe eine scharfe Waffe gelegen. „Seht her, ich weiß, wo ich euch und eure Familien finden kann“, sollen seine Worte gewesen sein.

Klassenkampf ist kein Kinderspiel, aber dabei kann sich die kleine Berliner Gruppe immerhin auf eine große Tradition berufen. In den Nachwehen der Revolution von 1918 entwickelte sich in Deutschland eine bis heute weitgehend unbekannte Bewegung, die politische Eliten und große Funktionärsapparate ablehnte. 1919 wurde die Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) gegründet, immerhin 150.000 Menschen sollen zu Hoch-Zeiten in ihr organisiert gewesen sein. Bis zum Ende der Weimarer Republik schrumpfte ihre Zahl aber auf wenige tausend Mitglieder; die Nazis besorgten schließlich den Rest. Am 9. März 1933 überfiel die Gestapo die FAUD-Zentrale in Friedrichshain, 1937 nahm sie hunderte Mitglieder der nunmehr illegalen Organisation fest.

Erst 1977 wurde in der BRD eine Nachfolgeorganisation, die FAU, gegründet. „Die Selbstbestimmung in allen Lebensbereichen ist die grundlegende Idee des Anarcho-Syndikalismus“, heißt es in einer Selbstdarstellung. Im Unterschied zu (kommunistischen) Parteien und Gewerkschaften lehnen die Anarcho-Syndikalisten deshalb „zentralistisch aufgebaute Organisationen ab, da diese stets Machtkonzentration und Hierarchie bedeuten“. Hauptansatzpunkt für den antikapitalistischen Kampf sei der ökonomische Bereich. Damit grenzt sich die FAU von autonomen Linksradikalen ab, die sich – je nach Coleur – den Kampf gegen Neonazis, Rassismus, Sexismus oder Antisemitismus auf die Fahnen schreiben.

Für Sylvie und Hansi geht es in naher Zukunft vor allem um konkrete Probleme: das Lokal organisieren, Veranstaltungen planen, die Miete auftreiben. Filmvorführer Hansi hat zudem die Kinobranche im Blick. Hauptsächlich Studenten schufteten hier als Einlasser und Servicekräfte für wenig Geld. „Da ist noch genug zu tun.“

Lokaleröffnung: heute, 19 Uhr, Straßburger Straße 38, www.fau.org

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