: Flugzeugentführung für Arme
Mit den jüngsten Busentführungen hat der Nahostkonflikt auch Deutschland erreicht. Experten rechnen mit einer Nachahmungswelle. Damit die Lage nicht eskaliert, ist allerdings Umsicht geboten
von UWE RADA
Der am wenigsten sachdienliche Hinweis kam gestern von der CDU. Die erneute Entführung eines Linienbusses, sagte der innenpolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Frank Henkel, sei bereits die zweite innerhalb weniger Tage, die durch einen gebürtigen Ausländer begangen wurde. Henkel: „Wir müssen erkennen, dass wir es in verstärktem Maße mit importierter Kriminalität zu tun haben.“
Weitaus näher an der Motivlage des Bremer und auch des Berliner Busentführers lag da schon der Polizeipsychologe Adolf Gallwitz. In Städten mit multikultureller Bevölkerung, sagt Gallwitz, der in Villingen-Schwenningen an der Polizeihochschule lehrt, sei „viel Wut und Hilflosigkeit verbreitet – besonders unter jüngeren Leuten wegen ihrer persönlichen Situation wie Arbeitslosigkeit und Armut“. Mit anderen Worten: Taten wie die von Bremen und nun auch Reinickendorf beziehen sich zwar auf Konflikte außerhalb der Bundesrepublik, sind aber von der Biografie der Täter her auch hausgemacht. Die Erfahrung der eigenen Marginalisierung schafft oft erst den emotionalen Nährboden für eine Bewunderung für palästinensische Selbstmordattentäter, wie sie der Busentführer in Bremen offenbar gehegt hat.
Dass der Nahostkonflikt Deutschland nun in dieser Form erreicht hat, mag überraschen. Dass er allerdings früher oder später auch hier zu Einzeltaten führen würde, haben viele vorhergesagt. Sowohl Innensenator Ehrhart Körting (SPD) als auch die Berliner Verfassungsschutzchefin Claudia Schmid haben in den letzten Monaten immer wieder vor Aktionen „emotionalisierter Einzeltäter“ gewarnt. Diese seien in einer Stadt viel wahrscheinlicher als terroristische Aktivitäten islamistischer Netzwerke. Nun hat die Wirklichkeit die Warnung bestätigt.
Die Krisenstäbe, die nun bei der Polizei, der Innenverwaltung und auch der BVG tagen werden, müssen in diesen Tagen die Möglichkeit einbeziehen, dass die beiden Busentführungen von Bremen und Reinickendorf nicht die letzten waren. Wenn die These von der Emotionalisierung unter bestimmten Gruppen von jungen Migranten stimmt, so gibt es nun eine Ausdrucksform für diesen Gefühlszustand. Polizeiexperten wie Adolf Gallwitz rechnen deshalb „auf alle Fälle“ mit einer „Nachahmungswelle“. Dabei spielt es auch keine Rolle, dass sich Busentführungen, wie es der Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer formuliert, bislang „weder national noch international als Erfolgsmodell erwiesen“. Entscheidend sei vielmehr, dass Menschen, die sich in einer Ohnmachtssituation sehen, mit einer solchen Tat noch einmal einen gewissen Höhepunkt erleben, „Machtrausch und Medienrummel“ inklusive.
Was die Busentführungen mit den Selbstmordanschlägen in Israel gemein haben, sind der Einsatz der körperlichen Unversehrtheit auf Täterseite und die Verbreitung von Angst und Schrecken bei den Opfern. Was sie aber davon unterscheidet, ist, dass es hierzulande offenbar keines tödlichen Terrorakts bedarf, um ein Fanal zu setzen.
Damit erklärt sich auch die schnelle Bereitschaft der jugendlichen Entführer, aufzugeben. Das ist bei den „Flugzeugentführungen für Arme“, wie man das Kapern eines Busses auch nennen könnte, nicht anders als bei „richtigen“ Flugzeugentführern wie dem türkischen Militärdienstverweigerer, der Ende März eine Maschine der Turkish Airlines entführte, um zu seiner Freundin nach Berlin zu kommen.
Um diesen Umstand weiß auch die Polizei. Haben die Beamten des Sondereinsatzkommandos nicht gezögert, einen schwer kriminellen Busentführer wie den Bankräuber Dieter Wurm mit Hilfe eines Schusswaffeneinsatzes unschädlich zu machen, waren bei den beiden politisch motivierten Entführungen vor allem die Psychologen am Werke. Alles andere wäre auch verheerend gewesen. Nichts würde eine Eskalation dieser neuen Form des „Lower Intensity Terrorismus“ schneller vorantreiben als ein toter Busentführer, der schnell zum Märtyrer werden könnte. Und nichts wäre eher geeignet, die Nachahmungswelle, von der Gallwitz spricht, auch wieder verebben zu lassen. Wenn die Aufmerksamkeit nachlässt, gibt es schließlich zwei Möglichkeiten. Man erhöht entweder den Einsatz, oder man lässt es – die hohen Haftstrafen vor Augen – bleiben.
Um ersteren Fall nicht eintreten zu lassen, braucht es allerdings Umsicht. Die Polizei hat diese bei ihrem Berliner Einsatz am Montagabend bereits bewiesen. Zur Umsicht gehört aber auch, dass die libanesische und die palästinensische Community einen Dialog eröffnen, der weiteren potenziellen Tätern und Nachahmern die Möglichkeit gibt, ihre Emotionalisierung anderweitig deutlich zu machen.
Alles Gerede von „importierter Kriminalität“, womöglich noch verbunden mit einer Verschärfung der Einbürgerungspolitik, bedeutete dagegen, weiteres Feuer an die Lunte zu legen.
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