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Die Stadt aus dem Meer

Die Nachfrage ist gesunken, aber der Sprecher des Managements sagt: „Alle glauben an das Projekt“

aus Amsterdam HENK RAIJER

In der Pause wird Land gemacht. Ein halbes Dutzend Vier- bis Sechsjähriger strömt um die Mittagszeit lärmend ins Freie und nimmt, mit Spaten bewaffnet, den noch nicht versiegelten Teil des Schulhofs in Angriff. Ihre Stimmen verlieren sich im Wind, der aus Nordwest bläst, oder gehen im Lärm der Kräne unter, die in der Baugrube nebenan die Fundamente für einen Straßenzug in Ijburg legen. Schule ist für die Pioniere auf dem neuen Land in den Gewässern vor Amsterdam vorerst nur ein Abenteuerspiel.

„Für die Kinder ist das hier wohl eher eine Ferienkolonie“, sagt Wendy Snaauw, die Leiterin einer der vier Grundschulen. Die Schule hat vor einigen Wochen in einer Holzbaracke den Lehrbetrieb aufgenommen, obwohl in Ijburg gerade mal sechs Familien ihr neues Heim beziehen konnten. Auf jedes Kind komme zurzeit eine Lehrkraft, sagt Snaauw. „Es ist einfacher, vor einer Klasse mit 20 Kids zu stehen, als ständig nur einen Schüler zu betreuen und dabei noch Distanz zu wahren. Ich komme mir schon vor wie eine Gouvernante.“ Umso mehr freut sie sich aufs nächste Schuljahr. „Da werden wir 25 Kinder haben. Ijburg ist auch für uns ein Abenteuer.“

Wendy Snaauw steht mit ihren fünf Kolleginnen und Kollegem auf dem Hof vor dem blauen Provisorium und hält Aufsicht. Einer ihrer Schüler verbringt seinen ersten Tag an der neuen Schule in Ijburg, ein stiller Elfjähriger in Jeans und Turnschuhen. Kareem kann dem Spiel der Jüngeren nichts abgewinnen. „Ich finde es okay hier“, sagt er. „Aber schön wär’s, ich könnte in den Pausen die alten Kumpels treffen.“ Zum Bolzen mit Gleichaltrigen eben, wie an der Schule auf dem Festland.

Holland expandiert mal wieder, diesmal nicht unter, sondern über dem Meeresspiegel (siehe Kasten). Auf einer Fläche von 420 Hektar Land, das bis zum Jahre 2009 dem Ijmeer abgerungen wird, baut die Stadt Amsterdam 18.000 Wohnungen für insgesamt 45.000 Menschen. Im Bau oder geplant sind überdies vier Schulen, drei Einkaufszentren, Büro- und Gewerbegebäude für etwa 12.000 Angestellte, ein Krankenhaus, mehrere Sozialstationen und eine Straßenbahnlinie ins Zentrum.

Keine Schlafstadt vom Reißbrett soll es werden, wie etwa Almere in der eingedeichten Neuprovinz Flevoland, nur 20 Kilometer nordöstlich. Ijburg soll vielfältig und bunt wie Amsterdam sein, jede der sieben Inseln soll nach dem Willen der Planer ihren eigenen Charakter bekommen: Steigereiland etwa, das auf Plattformen und Pfählen errichtet wird, dürfte Architekten viel Raum für Experimente bieten. Auf dem Kleinen Rieteiland, Buiteneiland und Strandeiland sind Apartments am Wasser und Luxusvillen am Deich oder im Schilf vorgesehen. Haveneiland und das Grote Rieteiland indes, wo sich gerade die ersten Familien eingerichtet haben und auch die Schulen ihr Provisorium bezogen, erhalten trotz vielen Grüns einen städtischen Charakter: mit dichter Bebauung, Wohnblocks, Cafés, Boulevards und Bootsanlegestellen.

Die zentrale Achse nimmt bereits Gestalt an: Entlang der geraden, gut einen Kilometer langen Ijburglaan wechseln sich rote Backsteinbauten mit weißen Riesenlegos ab. Dazwischen thronen Baukräne, die künftige Wohn- und Schlafzimmer zentimetergenau zwischen Stahlgerüste versenken. Orangefarbene Bagger buddeln Kanäle in das mühsam gewonnene Land, am westlichen Horizont verbindet ein steinerner Brückenbogen die beiden Ufer einer noch virtuellen Gracht.

„Wasser vor der Haustür und ein Boot am eigenen Kai – das war unser Traum“, erzählt Kareems Mutter. „Und die Jungs sollten ungestört toben können.“ Seit über einer Woche managt Mavis Carvilho den Einzug der Familie in die moderne 180-Quadratmeter-Wohnung auf dem Grote Rieteiland. Ihre zwei Ältesten, 11 und 15, und deren Großmutter vom Umzug nach Ijburg zu überzeugen, sei nicht so einfach gewesen, sagt die 42-Jährige, die als Unternehmensberaterin im Stadtkern von Amsterdam arbeitet. „Am Anfang hatten wir das Gefühl, wir würden in eine Baugrube auf dem Mond ziehen.“

Knapp 600.000 Euro hat die Familie für ihr neues Domizil in Ijburg bezahlen müssen. Das sei allemal billiger als etwas Vergleichbares in der Stadt, sagt Mavis Carvilho. „Amsterdam wurde zu teuer, und so haben wir uns für Ijburg entschieden.“ Aber erst nachdem das Projektbüro zugesagt hatte, dass Kareem in der neuen Heimat sofort zur Schule gehen könnte.

„Wir leben hier noch wie in einer Enklave, nicht nur wegen des Wassers und der Anfahrt in die Stadt“, sagt Mavis Carvilho. In Sweater, Jeans und Turnschuhen balanciert sie auf einer Leiter und räumt Aktenordner in ein Wandregal. „Der erste Supermarkt eröffnet erst, wenn das hundertste Wohnhaus bezogen ist. Auch für alle anderen Sachen müssen wir noch eine Weile in die Stadt“, sagt sie. Und etwas lauter zum fünfjährigen Omar, der Möbel und Umzugskartons als Trampolin benutzt: „Auch ein Krankenhaus gibt es noch nicht.“

Es bleibt also eine Menge zu tun bis 2013, wenn nach den Planungen des Projektbüros die letzten Bewohner ihr neues Zuhause auf Ijburg bezogen haben werden. Verzögerungen sind nicht auszuschließen, mehrmals schon mussten Baupläne aufgegeben und Zeitvorgaben revidiert werden. Denn was die Stadtplaner als billiges Bauland deklarierten, war für die Umweltschützer gefährdete Natur. Die Ijburg-Lobby musste den Projektgegnern als Kompensation für den Umweltfrevel eine Reihe von Renaturierungs- und Naturentwicklungsprojekten in Aussicht stellen, damit 1998 mit den Arbeiten begonnen werden konnte.

Inzwischen hat das Ijburg-Konsortium seine Pläne, was den Verkauf von Grundstücken und Luxusapartments betrifft, rezessionsbedingt korrigieren müssen. Eigentlich war geplant, den Bau bezahlbarer Mietwohnungen mit dem Verkauf teuren Wohnraums zu finanzieren, doch diese Strategie ging nicht auf. „Wohnungen von über 350.000 Euro sind in naher Zukunft kaum an den Mann zu bringen“, räumt Projektbüro-Sprecher Doede Jaarsma ein. „Wir sind gezwungen, auf die veränderte Nachfrage flexibel zu reagieren und bestehende Wohnungen neu aufzuteilen oder einen größeren Anteil als ursprünglich geplant zu vermieten.“ Das kann teuer werden. Für Wohnungen auf dem Grote Rieteiland werden Mieten bis zu 1.800 Euro verlangt.

Während 30 Prozent des Bestands dem sozialen Wohnungsbau vorbehalten bleiben sollen, entwickeln sich laut Jaarsma die untere und obere Mittelschicht neuerdings zur wichtigsten Zielgruppe: Familien, die sich Wohnungen bis 176.000 Euro leisten könnten, und solche, die bis 273.000 anlegen wollten; sie machen 40 Prozent der Interessenten aus. „Also senken wir in unseren Planungen den Quadratmeterpreis und somit den Standard“, sagt Jaarsma. Einen Grund, die hoch gesteckten Ziele aufzugeben, sieht er dennoch nicht: „Es hat nur eine leichte Änderung in der Nachfrage gegeben. Alle glauben doch an das Projekt.“

Mavis Carvilhos Familie war skeptisch: „Wir hatten das Gefühl, in eine Baugrube auf dem Mond zu ziehen“

Zumindest Ijburgfans der ersten Stunde wie Janneke und Tibor Strausz. Das junge Paar hat im Dezember einen Kaufvertrag über 230.000 Euro unterschrieben. In einigen Wochen übernehmen die beiden die 100 Quadratmeter Wohnraum in einem Reihenhaus auf dem Grote Rieteiland. „Wir wollten in Amsterdam leben und arbeiten, aber gleichzeitig in der Natur sein“, erklärt Tibor Strausz, während er auf die etwa 15 Quadratmeter große Sandkiste zeigt, die ihnen zwischen der Rückseite ihres Hauses und dem Geräteschuppen für einen Garten bleiben wird.

Der 27 Jahre alte Softwareingenieur und die 24 Jahre alte Sozialpädagogin fühlen sich als Pioniere. Beide werden demnächst unbezahlten Urlaub nehmen, als Erste in ihren Block einziehen und alle Ausbauarbeiten im Haus selbst vornehmen. „Nach und nach werden wir dann unsere Nachbarn begrüßen können“, sagt Tibor Strausz.

Gut 60 Familien, mit denen sie Tür an Tür wohnen werden, kennen sich schon: durch die Internetseite, die die Strausz zum Kennenlernen eingerichtet haben. „Wir wollten nicht nur ein Haus, sondern auch ein lebendiges Viertel mit Leuten, die sich bewusst für Ijburg entschieden haben“, erklärt er. Von ihren Freunden, sagt seine Frau, wolle keiner hierher ziehen.

Kareems Eltern wollten, und der Elfjährige hatte die Wahl: drei Minuten zu Fuß zur Schule über die Brücke nach Haveneiland oder täglich mit dem Bus in die Stadt.

Der Junge absolviert an seinem ersten Schultag in Ijburg einen Einstufungstest. Sobald er eine Aufgabe gelöst hat, greift er nach dem Laptop und spielt. Oder schaut aus dem Fenster auf die „Brücke 2001“, deren Form dem Gerippe eines Sauriers ähnelt. Sie verbindet das alte mit dem neuen Amsterdam.

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