: Kein Tag vergeht ohne Erinnerung
Geschichtsunterricht zum Anfassen: SchülerInnen einer Kölner Gesamtschule erfahren durch die Schilderungen des holländischen Holocaust-Überlebenden Jules Schelvis, „was wirklich passiert ist“
Von Miriam Vogel
„Es ist so wichtig, von Betroffenen zu hören, was damals passiert ist. Man kann es viel besser verstehen“, sagt Pia (17), Schülerin der integrierten Gesamtschule Holweide, die mit ihren Jahrgangskollegen am Mittwoch dem Holocaust-Überlebenden Jules Schelvis zuhört. Man merkt dem heute 83-jährigen an, wie wichtig es ihm ist, jungen Leuten seine Geschichte erzählen zu können. „Es kommt mir vor, als sei es letzte Woche gewesen. Kein Tag vergeht, ohne dass die schreckliche Erinnerung zurückkommt.“ Trotzdem erzählt der Niederländer eindringlich und mit vielen Details seine Lebensgeschichte und deren Aufarbeitung.
1921 in Amsterdam geboren, ist Jules Schelvis zur Zeit des deutschen Überfalls auf Holland gerade 19 Jahre alt. „Damals wussten wir noch nicht gleich, was die deutsche Besatzung für uns bedeutet.“ Als Sohn jüdischer Eltern ist er bald von den Verordnungen gegen Juden betroffen. Am 26. Mai 1943 wird er zusammen mit seiner Frau Rachel, einer Ostpolin, und deren Familie, ins holländische Zwischenlager Westerbork und anschließend ins Vernichtungslager Sobibor deportiert.
Nur weil er sich in letzter Minute einer Gruppe von 80 Arbeitshäftlingen anschließt, kann Schelvis das Lager verlassen. Erst später erfährt er, dass seine Frau und die anderen holländischen Juden seines Transports unmittelbar nach ihrer Ankunft in Sobibor vergast wurden.
Nach Aufenthalten in zehn verschiedenen Konzentrationslagern der Nazis wird Schelvis im März 1945 von den Franzosen befreit. „Erst nach meiner Pensionierung als Drucker hatte ich den Drang, die Geschichte des Vernichtungslagers Sobibor zu erforschen.“ Sobibor ist eines der „vergessenen Lager“ im Osten Polens, in dem von Mai 1942 bis Oktober 1943 etwa 250.000 Menschen ermordet wurden. Von rund 35.000 holländischen Juden, die ins Lager Sobibor verschleppt wurden, haben nur 18 überlebt.
Es ist die genaue Rekonstruktion der Ereignisse, die die Schüler der Gesamtschule Holweide interessiert. Wann genau haben Sie ihre Frau zum letzten Mal gesehen? Welches Gas wurde verwandt? Wie viele Stunden haben Sie gearbeitet? Aber auch über sein Verhältnis zu Deutschland und wann es sich verbessert hat, möchten die Schüler mehr wissen. „Als Deutschland in die Europäische Gemeinschaft kam, haben wir wieder zusammengearbeitet“, erzählt Schelvis. Im Laufe der Zeit habe sich das Verhältnis eben normalisiert. „Zur Versöhnung bin ich seit langem bereit, zum Vergessen nicht.“
Solange er lebt, möchte Jules Schelvis lieber das erzählen, „was damals wirklich passiert ist. Es ist wichtig, dass mehr deutschsprachige Menschen davon erfahren.“
Ein Teil der Holweider Schüler bereitet sich auf eine Fahrt nach Polen vor. „Eine Gedenkstättenfahrt für Schüler der 11. Klasse hat in unserer Schule schon Tradition“, erklärt Cilli Pilgrim, verantwortliche Lehrerin an der Gesamtschule. „Für mich ist es wichtig, die ,vergessenen Lager‘ Polens zu sehen.“ Von Lublin aus wird die Gruppe im Mai unter anderem nach Majdanek und Sobibor fahren. Bei der Reise geht es aber auch um das heutige Polen. „Ich möchte, dass die Schüler den Blick nach Osten öffnen und die ihnen fremden Lebenswelten kennenlernen“, so Pilgrim.
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