: „Wie im Himmel so auf Erden“
Bedeutet der beobachtbare Boom von sakralen Ritualen, Motiven und Erzählformen in der Kunst eine Wiederkehr der Religion? Wie missionarisch ist ein Theater wie die Berliner Volksbühne, wo zuletzt ein Meer von Rausch, Voodoo und Teufelszauber anbrandete? Eine Recherche aus gegebenem Anlass
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Man muss gar nicht in die Tiefe gehen. Schon an der Oberfläche wird etwas sichtbar. „Liebe deinen Nächsten“ und „Opium fürs Volk“ prangt die Schrift weiß auf rot auf den Bahnsteigen und wirbt für die neue „Big Brother“-Staffel von RTL. Arte produziert Serien über Forschungsreisen auf den Spuren des Neuen Testaments und der Geburt des Christentums. Erst zieht der Film „Luther“ die Massen ins Kino, dann lassen die Ankündigungen von Mel Gibsons Film „Passion“ Theologen und Fans des Splatters gespannt auf seinen Einsatz in den Kinos warten. Bildende Künstler zitieren die christliche Ikonografie allenthalben: Die Fotografin Annie Leibovitz inszeniert die Mafia-Familie der Fernsehserie „The Sopranos“ am Tisch wie beim Abendmahl, Boris Mikhailov hat Obdachlose und Alkoholiker in seiner russischen Heimat schon lange in Posen der Märtyrer abgelichtet, Andres Serrano besetzt die Rolle des Christus unter der Dornenkrone mit einem Schwarzen, und Bettina Rheims bebilderte vor ein paar Jahren das Neue Testament mit Fotomodellen. Allmählich scheinen all diese Anleihen an christlicher Rhetorik und Bildsprache nur die Spitze eines Eisbergs zu sein, der sich unter der Decke der Säkularisierung langsam nach oben schiebt.
Nur mal so diese Oberfläche betrachtet, ergibt sich ein Bündel an Fragen, die vorerst nur mit Vermutungen und Wünschen zu beantworten sind. Erleben wir gerade eine Verschiebung der Kompetenz für religiöse Fragen weg von der Kirche hin zu Kunst, Medien und Werbung? Wahrscheinlich. Bedeutet der Boom von sakralen Ritualen, Motiven und Erzählformen in der Kunst gleich eine Wiederkehr der Religion? Eher nicht. Ist die Sehnsucht nach Transzendenz eine Reaktion auf den Schrecken, in der Zeit eines permanenten Krieges angekommen zu sein? Diese Erklärung greift unbefriedigend kurz. Schlittern wir, wie Thomas E. Schmidt in der Zeit schreibt, „in eine Epoche, die uns lehren wird, wieder das Knie zu beugen“? Da hoffen wir, das möge sich als falsch erweisen.
Um dem mulmigen Gefühl, da kommt was auf uns zu, was wir nicht auf der Rechnung haben, zu begegnen, begebe ich mich auf Motivforschung an einen der jüngsten Schauplätze einer überraschenden Wendung zum Gebet: in die Berliner Volksbühne, die mit ihrer Premiere von Ulrich Seidls „Vater unser“ dem Religionsverdacht fette Beute lieferte. Schließlich wird in diesem ersten Theaterstück des österreichischen Dokumentarfilmers Seidl unentwegt gebetet und Gott angerufen. Claus Peymann, Intendant des Berliner Ensembles, der sich mit der Volksbühne eh schon im Streit um den wahren Begriff der Aufklärung befindet, warf dem Theater daraufhin vor, „rechts außen gelandet“ zu sein.
Carl Hegemann ist langjähriger Dramaturg der Volksbühne und Verfasser der manifestähnlichen Programmzettel. Die waren Mitte der Neunzigerjahre, am Anfang der Dostojewski-Phase der Volksbühne, mit dem Motto „Ohne Glauben leben“ überschrieben, und heute steht über dem Programm „Wie im Himmel so auf Erden“. Was ist die innere Logik dieser Entwicklung, will ich wissen. Der Dramaturg, der im Intendantenzimmer unter dem Reprint eines DDR-Plakats von 1953 „Stalin – Das ist Frieden“ sitzt, holt aus.
„Anfang der Neunzigerjahre hatten wir eine interessante Situation. Der in der DDR auch bei Oppositionellen fest verankerte Glaube, dass der Sozialismus einmal siegt, hatte einen schweren Schlag bekommen. Der religiöse Glaube ist mit der Aufklärung erodiert, aber die ganzen Ersatzsysteme, wie der Glaube an die Revolution oder die Wissenschaft, hauten auch nicht mehr hin. Auch in den harten Wissenschaften wird seit der Quantentheorie alles relativ: Was man sieht, hängt vom Beobachterstandpunkt ab, und das Messinstrument bestimmt das Messergebnis. Das sind im Vergleich zu unseren früheren festen Grundlagen alles extrem wackelige Positionen. Und auch die kapitalistische Alternative, auf die viele glaubten nach der Wende setzen zu können, zeigte bei näherer Betrachtung ausweglose Zerfallserscheinungen.“
In Tragödien und tragischen Farcen begann die Auseinandersetzung mit den totalitären Systemen und ihrer Zerstörung. Frank Castorf und Christoph Schlingensief arbeiteten sich ab an kommunistischen Heilserwartungen oder den Erlösungsvorstellungen der ästhetischen Avantgarden, die sich letztendlich immer als besserer Todestrieb erwiesen. Dann aber stellte man mit Nietzsche fest, wenn man die wahre Welt abgeschafft hat, hat man auch die scheinbare abgeschafft, denn keiner von beiden Begriffen ist ohne den anderen denkbar. „Da blieben nur das Theater übrig und die Erkenntnis, dass alle Welt Theater spielt.“ Die Volksbühne begriff sich da als Hort der Spezialisten, diese Theaterhaftigkeit der Welt zu reflektieren.
„Wir sind nicht weiter oder besser als andere“, fährt Hegemann fort. „Wir distanzieren uns auch nicht von Leuten, die einen anderen Weg haben. Wir engagieren uns nicht missionarisch. Aber wir wollen rauskriegen, wie funktionieren Menschen, was machen sie, um ihr Leben zu ertragen. Das Einzige, was wir verbreitet haben, ist eben Ambiguitätstoleranz. Unsere Erfahrung zu vermitteln, dass man auch unstrukturierte Situationen ertragen und auch auf einem wackligen Boden arbeiten und eine Meinung äußern kann. Lieber als der Totalitarismus ist uns die Orientierungslosigkeit. Lieber als die Fixierung auf eine Vaterfigur, die in jeder Situation sagt, wo es langgeht, ist uns die Fähigkeit, diese unstrukturierten Situationen zu ertragen.“
Vor dem Hintergrund dieser Forderung nach Ambiguitätstoleranz kam nun die Suche nach anderen Entwürfen ins Spiel. „Wir begreifen uns auch als Forschungsunternehmen, lasst uns doch untersuchen, wie die das machen. Wir sind Schauspieler und haben die Aufgabe, uns in andere Lebensformen hineinzuversetzen.“ Und so sei man an den Glauben herangegangen wie an eine fremde Kulturtechnik.
Das klingt nach einem ethnologisch kalten Blick: fremde Lebensformen beobachten, Kulturtechniken üben, Sprachspiele testen. Das Forschungsinteresse der Volksbühne in Ehren, aber ist die Sache damit ausgestanden? Nein, es gibt noch mehr Indizien für die Bearbeitung religiöser Bedürfnisse, denn die asketische Inszenierung von Seidl ist nur eine Insel in dem Meer aus Rausch, Voodoo und Teufelszauber, das die letzten Inszenierungen von Frank Castorf waren.
„Allein die Rationalität der schnell arbeitenden Computerzeit, das geht nicht. Nur mit Zynismus zerbricht alles. Religiosität ist ein Anker. Das ist das Rauschhafte am Katholischen, das schon Bataille angezogen hat“, sagte Castorf letztes Jahr in einem Interview und lieferte damit einen weiteren Baustein der Programmatik: „Religiosität ist ein Anker.“ Sie tauchte in seinen Stücken dabei auf unterschiedlichen Ebenen der Produktion von Sinn und Wahn auf: In „Der Meister und Margarita“ einerseits in der Struktur der Autoritätshörigkeit als Parodie auf ein totalitaristisches System und andererseits als die große Erzählung, um die ein Künstler sein Leben lang kämpft und für die sich alles Leiden wieder lohnt. In „Trauer muss Elektra tragen“ dagegen waren Zauberei und Voodookult mehr die Personifizierung der Rache des Verdrängten, des kolonisierten Landes, der vergessenen Opfer. Der Rausch schließlich, der jede Ökonomie verzerrt und zerstört, sollte in „Kokain“ zum Instrument der Kapitalismuskritik werden.
„Wenn wir rational und fortschrittlich sein wollen, was wir wollen, müssen wir die konstitutive Irrationalität mitdenken; sonst werden wir als Aufklärer irrational. Die Gefahr der Regression ist ein konstitutiver Bestandteil unseres Daseins“, analysiert Hegemann diese unterirdischen Bewegungen, die in alle Texte hineinkriechen. „Das ist die Einsicht der Aufklärung über sich selbst, das Licht ist ohne das Dunkel im Keller nicht zu haben. Deshalb ist es für Castorf kein Problem, so etwas zu sagen, was vermeintlich nach Heimkehr in den Schoß der Kirche klingt, und das zugleich in Frage zu stellen.“
Mir ist inzwischen auch ein wenig rauschhaft zumute, und ich denke über die Fragen nach, mit denen ich gekommen bin. Alle diese Überschneidungen des Volksbühnenprogramms mit den Themen Glauben und Sehnsucht nach Transzendenz haben in letzter Zeit in den Feuilletons oft dazu geführt, dieses Theater als Beleg anzuführen für die Verschiebungen zwischen Religion und Kunst: etwa für die These, dass die Kunst nun für Erwartungen nach Erlösung zuständig ist. Und auch für die Behauptung, dass Glauben und Religion wieder gebraucht werden als wertbildende Instanzen.
Beides aber findet Hegemann furchtbar. „Wichtig ist wirklich, die religiöse Frage von der ethischen zu trennen. Wenn uns das nicht gelingt, dann gelingt uns überhaupt nichts. Wir fallen hinter alle Resultate der Aufklärung zurück, wenn Tugenden wie Zärtlichkeit, Großzügigkeit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Gelassenheit, Anerkennung, also letztlich Liebe und Vertrauen an eine übergeordnete Instanz gebunden wären, wenn nur durch Religion Ethik generiert würde. Das wäre eine Katastrophe für die Menschheit, wenn wir unsere Regeln, wie wir leben, nicht unabhängig von einer transzendenten Autorität gestalten könnten.“
Vielleicht ist das der springende Punkt, weshalb mir gerade dieses Theater in seinem Umgang mit Religiosität und Moral so sympathisch ist. Weil ihr Programm nahe legt, sich der Möglichkeiten der Trennung der verschiedenen Funktionen und Erscheinungsweisen bewusst zu werden, die früher an das eine System Religion gebunden waren. Jetzt aber kann man das Bedürfnis nach Religiosität ernst nehmen, ohne damit gleich verbindliche Autoritäten installieren zu wollen. Nicht jeder, der plötzlich den Glauben zum Thema nimmt, ist gleich ein Kombattant, der das christliche Abendland gegen den Islam verteidigen will. Auch wenn ihn andere, im Konkurrenzkampf der Künste um den wahren Geist der Aufklärung, gerne in diesen Sack stecken würden.
Die Zeichen der Religiosität aber sind verwildert. Sie sind zu einem Pool von Chiffren geworden, aus dem sich viele – in den Künsten, aber nicht nur dort – bedient haben, seit die Kirchen ihre Macht eingebüßt haben. Ihre Benutzung bedeutet nicht immer dasselbe, und vielfache Brechungen und Belegungen mit anderem Sinn haben sich hineingemischt. Diese Entwicklung währt schon lange. Verändert aber hat sich in den letzten Jahren das Erregungspotenzial, das ihnen wieder zukommt. Doch der Nerv, der da so aufgeregt zuckt, nährt sich wohl aus so unterschiedlichen Wurzeln, dass Bewertungen wie „konservativ“ oder „rechts“ oder „notwendig im Wertediskurs“ schlicht zu kurz greifen.
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