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Ein abstraktes Thema zur frühen Stunde

Abgeordnete und ihre Nachbarn wollten sie gestern wecken – die Studenten vom Berliner Bündnis gegen Sozialraub. Dann standen sie allein auf der Straße. Die Abgeordneten ließen sich nicht blicken, die Nachbarn blieben auf Distanz

„Guten Morgen erst mal“, René spricht zaghaft ins Megafon. Früh ist es, acht Uhr, da plaudert es sich noch nicht so locker. Der 25-Jährige steht auf der Ladefläche eines weißen Kleinlasters. Den durften die Studenten an der Ecke der Oderberger Straße abstellen, ganz nah am Bürgersteig. Schließlich darf niemand behindert werden, begründet die Polizei. René räuspert sich. Möglichst jeder Anwohner soll wissen: Ein paar Häuser weiter wohnt Stefan Liebich, PDS-Landeschef und Mit-Entscheider über den Berliner Doppelhaushalt. „Hier, unter euch lebt jemand, der für die Kürzungen mitverantwortlich ist“, Renés Stimme wird fester. Die Fenster bleiben geschlossen.

Zwei Polizisten, ein Mannschaftswagen, 30 Studenten. Die vom Berliner Bündnis gegen Sozial- und Bildungsraub organisierte Kundgebung tönt leise. Musik gibt es noch nicht, auch kein Mikro. „Erst wenn wir 50 Leute sind, dürfen wir beschallen“, erklärt René. Da müssen die Banner reichen. „Unsere Agenda heißt Widerstand“, steht darauf. Widerstand gegen den Haushalt und Sozialabbau. Darüber möchten die Studenten mit Liebichs Nachbarn diskutieren. Doch die sind verhalten: Zaghaft lächeln sie aus vorbeifahrenden Autos, gehen zwar neugierig an den Protestierenden entlang – ein Gespräch aber ergibt sich nicht.

In der Jansen- und in der Fichtestraße – den Wohnorten des PDS-Haushaltsexperten Carl Wechselberg und des Parlamentspräsidenten Walter Momper (SPD) – sehe das ganz anders aus, erklärt Bündnis-Sprecher Michael Hammerbacher. „Die Bürger sind am abstrakten Thema Haushalt interessiert.“ Dort scheint das Akionsziel, die Abgeordneten aus ihrer Anonymität zu reißen, zu funktionieren. Auch wenn es nur per Handzettel geschieht. Denn Liebich, Wechselberg und Momper lassen sich nicht blicken – an keinem Ort, nirgends. Allein von Flugblättern lächeln sie. So sehen sie also aus, die vom Sozialbündnis erwünschten Gesichter der Kürzungspolitik – grün und manchmal auch zerknittert.

Im Prenzlauer Berg darf mittlerweile beschallt werden. Die 50-Demonstranten-Grenze haben die Studenten geschafft. Nur Liebichs Nachbarn wollen noch immer nicht so richtig. „Stefan, tu etwas für uns“, schrebbelt es aus dem Megafon. Ein bisschen Bloßstellen, meint Rainer Wahls vom Bündnis, das hätten sich die Abgeordneten selbst zuzuschreiben. Und die seien ja nicht mal anwesend. In Kreuzberg ist man darüber verärgerter. „Der Carl wollte kommen – das haben die doch im Radio gesagt.“ Christian ist enttäuscht. Mit dem Sozialisten wollte er frühstücken und diskutieren. Der Student ist wütend: „Dann soll er mir wenigstens die 10 Euro fürs Frühstück wiedergeben. Aber die spart der bestimmt auch!“

ANDREA BREDDERMANN

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