: Vorschusslorbeeren
aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER
Der Sonnenkönig ist gestern in Aachen zum Kaiser befördert worden. Der Karlspreis der Stadt wird jedes Jahr an eine Persönlichkeit verliehen, die sich um die europäische Einigung verdient gemacht hat. Der Geehrte, Valerie Giscard d’Estaing, nannte die Auszeichnung die Krönung seines Lebenswerks. Dabei geht die Arbeit für den Präsidenten des EU-Reformkonvents heute erst richtig los. Denn in Brüssel treffen sich die Delegierten des Konvents, der eine Verfassung für Europa ausarbeiten soll, zum Endspurt.
„Europa muss aus dem kleinen Kreis der Eingeweihten heraustreten. Von dieser Warte aus betrachtet, ist der Konvent bereits jetzt ein Erfolg“ – ob der Preisträger diese Worte wählte, um die Messlatte für das Ergebnis der vielstündigen Debatten zu senken?
Nach eigenem Bekenntnis hofft er darauf, später in renommierten Geschichtsbüchern zumindest in einer Fußnote Erwähnung zu finden. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Doch ob Giscard als großer Erneuerer des erweiterten Europa oder als Organisationschaot in die Geschichte eingeht, ist noch gar nicht ausgemacht. Seine mit Spannung erwartete Rede verdeutlichte im Brennglas den Führungsstil, mit dem der 77-Jährige während der vergangenen 18 Monate die Konventsmitglieder zur Verzweiflung trieb. Viele Zuhörer hatten sich konkrete Hinweise darauf erhofft, wie so kurz vor Torschluss – Mitte Juni soll der Entwurf fertig sein – die unversöhnlichen Positionen im Konvent doch noch zusammengeführt werden sollen.
Sie wurden enttäuscht. Gut zwei Drittel seiner Redezeit widmete Giscard Leben und Wirken Karls des Großen, referierte Details der historischen Forschung und gab Anekdoten aus seiner Kindheit zum Besten. Zum Schluss erklärte er lapidar, die ganze EU-Konstruktion sei erneuerungsbedürftig: „Wer das noch nicht kapiert hat, hätte verdient, in einer karolingischen Schule die Eselskappe zu tragen.“
Kaum anzunehmen, dass diese Drohung Peter Hain, der im Auftrag der britischen Regierung den Konvent blockiert, sonderlich beeindruckt. Auch Konventsmitglied Joschka Fischer, der die Worte live im Krönungssaal des Aachener Rathauses hörte, dürfte sich die Kappe kaum anmessen lassen. Seine Vorschläge, die er zum Teil gemeinsam mit dem französischen Außenminister einbrachte, gehen weit über das hinaus, was die 105 Delegierten heute auf ihren Tischen liegen haben. Sollten außenpolitische Entscheidungen weiterhin einstimmig gefasst werden, wie es der neueste Verfassungsentwurf des Konvents vorsieht, dürfte Fischers Appetit auf das neue Amt deutlich schwinden. Auch sein Vorschlag, den Außenminister durch einen eigenen diplomatischen Dienst zu stärken, findet sich nicht in der bislang letzten Version des Verfassungsentwurfs.
Johannes Rau, den sich Giscard als Lobredner gewünscht hatte, rief diese Idee des Außenministers in Erinnerung. In seiner lehrerhaften Art mahnte er: „Die Wahl [des Preisträgers] ist wirklich gut – aber sie ist nicht ohne Risiko. Die Auszeichnung wird ja auch für etwas verliehen, das noch nicht vollendet ist. Haben Sie Mut, geben Sie Europa eine Zukunft!“ Auch der Aachener Bürgermeister sagte in seiner Begrüßungsansprache beschwörend: „Europa muss jetzt beweisen, dass es regierbar ist. Der Konvent darf nicht scheitern.“
Doch genau das könnte leicht geschehen. Statt einer vereinfachten, leicht lesbaren Verfassung, die ein Europa aus 25 Mitgliedern überschaubar und regierbar macht, liegt ein in sich widersprüchlicher Kompromiss auf dem Tisch, der an der zentralen Stelle, an der die Macht der Institutionen beschrieben wird, ein großes Loch aufweist (siehe Randspalte).
Die 18 kleineren EU-Staaten lehnen Giscards Lieblingsidee ab, einen hauptamtlichen Ratspräsidenten für zweieinhalb Jahre zu wählen. Auch bestehen sie darauf, dass weiterhin jedes Land einen eigenen Kommissar nach Brüssel schickt. Giscard will die Kommission von 20 auf 15 Mitglieder verkleinern. Sollten beide Modelle am Ende unversöhnlich nebeneinander stehen, bleibt es wiederum den Regierungschefs der Mitgliedstaaten überlassen, den Text hinter verschlossenen Türen zu verwässern – so wie bei den Verhandlungen um den letzten EU-Vertrag in Nizza.
13 Staaten mit nur 3,5 Millionen Einwohnern, geschichtslos, mit einer gemeinsamen Sprache, hätten die Vereinigten Staaten von Amerika gegründet, erinnerte Giscard gestern, um das Ausmaß seiner eigenen Aufgabe zu verdeutlichen. Ob das allerdings rechtfertigt, dass die Grundrechtecharta irgendwo im Mittelteil der neuen Verfassung versteckt wird, einschließlich der Präambel in unterschiedlichen Sprach-Versionen (siehe ebenfalls Randspalte), ist eine andere Frage.
Sein Herzblut hat der Konventspräsident in eine zweite Präambel fließen lassen, die der Verfassung voran stehen soll. Das Präsidium habe den Text bereits gebilligt, teilte sein Sprecher gestern mit. Es habe geringfügige stilistische Änderungen vorgenommen – was die für deutsches Stilempfinden unerträgliche Konstruktion der Sätze nicht wesentlich beeinflusst hat.
Die Frage, ob und wie Giscard dem Wunsch der Kirchen entspricht und auf die christliche Tradition Bezug nimmt, war in den vergangenen Tagen in Brüssel eines der wichtigsten Themen. Immerhin könnte das Gesamtwerk nun ins Buch der Rekorde kommen – als einzige Ver fassung der Welt, die zwei Präambeln hat.
Ansonsten sind keine Superlative zu vermelden. Kommissionspräsident Romano Prodi war so enttäuscht, dass er sogar behauptete, der Text sei schlechter als der Vertrag von Nizza. Das ist zwar eine Übertreibung, aber viele Konstruktionsfehler der letzten Vertragsreform werden tatsächlich weitergeschleppt. So zeichnet sich ab, dass in Steuerfragen auch künftig nur gemacht werden kann, was alle einstimmig beschlossen haben.
Das Einigungswerk seiner großen Ahnen – Caesar, Karl der Große, Napoleon – hat nach Meinung Giscards den Schönheitsfehler, dass es mit Waffengewalt zu Stande kam. „Wir versuchen Europa mit der Schreibfeder zu vereinen“, sagt der frisch Gekrönte stolz. Karl dem Großen sei dieser Weg schon deshalb verwehrt gewesen, weil er gar nicht habe schreiben können.
Ein Blick in den Verfassungsentwurf kann dazu führen, dass wir unsere Vorfahren um ihren analphabetischen Herrscher beneiden.
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