: Agenda 2010 auf dem Prüfstand
Die Grünen in NRW fordern Überprüfung und Nachbesserung der Reformen der Bundesregierung: Die soziale Ausgewogenheit soll gesichert werden – doch die SPD beharrt auf den Hartz-Gesetzen
VON ANDREAS WYPUTTA
Beeindruckt von den Massenprotesten gegen die neoliberalen Sozialreformen von Bundesregierung und Opposition haben Spitzenvertreter der nordrhein-westfälischen Grünen eine Überprüfung der so genannten Agenda 2010 gefordert. Die Politik müsse sich diskussionsfähig zeigen und bei berechtigter Kritik nachbessern, so der grüne Landesvorsitzende Frithjof Schmidt zur taz. Die Reformen litten bisher unter einem „Vollzugsdefizit“ – schließlich hätten sich SPD und Grüne auch für die Einführung von „Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer und Schritte hin zu einer Bürgerversicherung“ stark gemacht. „Das müssen wir jetzt auch umsetzen.“
Gleichzeitig wehrte sich der Parteichef gegen Vorwürfe, er stehe für einen „Zick-Zack-Kurs“. Vielmehr soll die Koalitionsvereinbarung von SPD und Grünen in NRW, das so genannte Düsseldorfer Signal, als Beispiel für den Bund gelten: Die Partner hatten vereinbart, jedes Gesetz nach einem „angemessenen Zeitraum“ zu überprüfen. Da in der Öffentlichkeit besonders scharf kritisierte Einschnitte wie die Praxisgebühr, die Ausgliederung des Zahnersatzes aus der gesetzlichen Krankenversicherung oder die Zumutbarkeitsregelungen erst auf Druck von CDU und FDP im Vermittlungsausschuss beschlossen worden seien, müsse sich auch die Opposition der Diskussion stellen. „Die Union forciert das Lohndumping, wir Grüne fordern eine Debatte über den gesetzlichen Mindestlohn“, betont Schmidt.
Unterstützung kommt aus der grünen Landtagsfraktion: „Vernachlässigt wurde bisher eine Debatte über soziale Nachhaltigkeit“, meint der parlamentarische Geschäftsführer Johannes Remmel. Nötig sei eine Sozialcharta, möglichst auf europäischer Ebene. Denn Zweifel an der Wirksamkeit der Reformen plagen auch Remmel: Zum einen sei die angekündigte Entlastung der Kommunen durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und deren Übernahme durch den Bund keineswegs sicher. Zum anderen droht Chaos bei der Einführung der Hartz-Gesetze zum 1. Januar: Die Fusion der Arbeitsverwaltung und der Sozialbehörden steckt fest. „Da ist Wolfgang Clement gefordert“, mahnt Remmel den SPD-Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit.
Gerade die beschlossene Reduzierung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau sorgt auch den wirtschaftspolitischen Sprecher Rüdiger Sagel: „Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit droht der Absturz auf 345 Euro monatlich.“ Sagels Angst: Die Sicherung des Lebensunterhalts, den die Sozialhilfe eigentlich garantieren sollte, könne nicht mehr gewährleistet sein. „Es ist fragwürdig, ob die Verfassung das trägt“, warnt Sagel.
Bei der SPD stießen die grünen Mahnungen auf Ablehnung. Man könne die Agenda 2010 „nicht beliebig verändern“, so der Generalsekretär der nordrhein-westfälischen Sozialdemokraten, Michael Groschek, zur taz. Doch auch Groschek steht unter dem Eindruck der über 500.000 Demonstranten, die am Wochenende gegen den Sozialkahlschlag demonstrierten – und kündigt Diskussionen besonders mit den Gewerkschaften an: „Die Frage ist doch: Was sind die Alternativen?“ Weitere Einschnitte ins soziale Netz forderte dagegen FDP-Landesparteichef Andreas Pinkwart: „Die Agenda 2010 wird nicht entschlossen genug umgesetzt und ausgebaut.“
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