: Israelis fordern: „Raus aus Gaza!“
150.000 Menschen demonstrieren in Tel Aviv für die Politik von Ministerpräsident Scharon: Mitglieder der Arbeitspartei, der Kibbuzbewegung und der Genfer Friedensinitiative. Aber es gibt auch Kritik. Jossi Beilin fordert die Abwahl des Regierungschefs
AUS TEL AVIV SUSANNE KNAUL
„Den Kinderwagen auch!“ ruft eine Polizistin ihrem Kollegen zu, deutet auf den jungen Vater, der folgsam seinen Buggy und die Plastiktüte mit Windeln und Fläschchen auf ein Fließband stellt, um beides auf Sprengstoff überprüfen zu lassen. Mutter und Baby passieren derweil eine der Fußgängerschleusen, die die Polizei rund um den Jitzhak-Rabin-Platz in Tel Aviv eingerichtet hat, um die insgesamt etwa 150.000 Demonstranten zu kontrollieren. 1.300 Sicherheitsleute waren am Samstagabend im Einsatz, einige der Redner trugen eine kugelsicherer Weste. Bei der größten Friedensdemonstration seit der Ermordung von Expremierminister Jitzhak Rabin wollte man kein Risiko eingehen.
An dem ungewöhnlich kühlen Maiabend hätten sogar die Wetterverhältnisse an den Abend erinnern müssen, an dem der israelische Friedensnobelpreisträger starb. Und doch war alles anders. Keine Euphorie, kein seeliges Mitschwingen zu den Klängen des Friedensliedes, das Rabin damals von der Bühne aus mitanstimmte, kein tosender Beifall nach Worten wie „Genug der Gewalt“. Die Solidarität galt diesmal einem Premierminister, für den kaum einer der Teilnehmer jemals seine Stimme abgeben würde – von einer kleinen, etwas abseits stehenden Gruppe, die tapfer das Schild „Arik (Ariel Scharon) – das Volk steht hinter dir“, hoch hielt, abgesehen.
Unmittelbar nach der Abstimmung der Likud-Mitglieder gegen den Scharons Plan eines einseitigen Abzugs aus dem Gaza-Streifen machte sich das israelische Friedenslager, darunter die Arbeitspartei, die Kibbuzbewegung und die „Genfer Friedensinitiative“ an die Organisation der Veranstaltung. „Die Mehrheit entscheidet – Raus aus Gaza“, lautete das Motto des Abends.
„Ich bin überzeugt, dass nur, wer am Tag der (Siedlungs-)Räumung großen Schmerz empfindet, diese auch umsetzen kann, ohne sich im Herzen eines Bürgerkrieges wiederzufinden“, meinte Ex-Schin-Beth-Chef Ami Ayalon. Scharons Bürochef hätte es kaum überzeugender formulieren können. Ayalon, der mit Sari Nusseibah, Direktor der Ost-Jerusalemer Al-Quds-Universität, sechs Prinzipien für ein bilaterales Abkommen formulierte, drängte dennoch auf eine Einigung mit den Palästinensern.
Das Thema von Verhandlungen geschickt umgehend, konzentrierte sich Schimon Peres, Chef der Arbeitspartei, auf jüngste Umfragen. „Dies ist ein Protest der Mehrheit“, meinte er. 80 Prozent der Bevölkerung stünden nur „einem Prozent“ der Abzugsgegner im Likud gegenüber. Für Israel ist „Frieden und Sicherheit möglich“, rief er enthusiastisch ins Mikrofon und erntete dafür nur schwachen Beifall.
Die Botschaft der Demonstration, den Gaza-Streifen aufzugeben, war, so simple sie schien, doch keine eindeutige. Während Peres uneingeschränkt für den Abzug eintrat, appellierte der letzte und wichtigste Redner des Abends, Jossi Beilin, Parteichef des neu gegründeten linken Bündnisses „Jachad“, für neue Verhandlungen mit den Palästinensern. Die von ihm federführend ins Leben gerufene „Genfer Initiative“ zeige, dass es „einen Partner dafür gibt“. Er wetterte offen gegen Scharon, der „noch nicht einmal den Versuch unternommen hat, zu einem Friedensabkommen zu gelangen“. Wenn die Regierung den Frieden nicht bringe, dann sollten es die Bürger tun. Nun, da „die schweigende Mehrheit ihr Schweigen überwindet“, sei ein Anfang gemacht, um „Scharon aus dem Amt des Premierministers zu vertreiben“.
meinung und diskussion SEITE 11
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen