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normalzeitHELMUT HÖGE über Aufstieg und Fall der Bioläden

Am Basiserfolg gescheitert?

Der älteste Bioladen Berlins, die „Sesammühle“ in der Knesebeckstraße 89, wird 30 Jahre alt. 1974 gab es in der westdeutschen „Alternativbewegung“ bereits allerorten Pläne für solche kollektiv betriebenen Läden. Gleichzeitig zogen viele aus der Stadt raus in Landkommunen, wo sie sich mit der Idee der Selbstversorgung anfreundeten. Nicht selten entstanden daraus dann Handelsbeziehungen zu den städtischen Bioläden. Hans Müller-Klug, der heutige Alleinbesitzer der Sesammühle, besuchte 1974 die Landkommune Magelsen in der Wesermarsch.

Dort war man gerade dabei, acht Apfelbäume hinterm Hof abzuernten. Anschließend sollten die etwa zehn Zentner Äpfel zu einer Obstpresse nach Hoya gebracht werden, was den Landkommunarden 100 Flaschen Apfelsaft eingebracht hätte. Allerdings wäre der Saft dabei nicht aus ihren Äpfeln gepresst worden, sondern von irgendwelchen, in einem während der Erntezeit ununterbrochenen Fließbandverfahren. Hans, der bei der Apfelernte mithalf, fand dieses Verfahren unannehmbar, da es sich dabei ja theoretisch zumindest auch um Saft aus pestizidgespritzten Äpfeln handeln konnte. Er überredete die Kommunarden, ihre Äpfel ein paar hundert Kilometer weiter zu einer alternativen Saftpresse nach Lüchow-Dannenberg zu schaffen, wo sie zwar einen geringen Eigenbetrag für die 100 Flaschen zahlen mussten, anschließend jedoch sicher sein konnten, dass es sich dabei um Saft von ihren eigenen Äpfeln handelte.

Einer der Kommunarden half später ein paar Wochen lang in der Sesammühle aus, wo er morgens als Erstes die verschiedenen Getreideflockensorten in Kilotüten einwog. Einmal kam ein staatlicher Lebensmittelkontrolleur im Laden vorbei und nahm einige Haferflockentüten mit. Anschließend musste Hans 400 DM Strafe zahlen, weil vier der zwölf kontrollierten Tüten knapp unter 1.000 Gramm wogen. Der Landkommunarde war darüber erbost, denn, so meinte er, eine solche Kontrolle wäre nur angebracht bei großen Ladenketten und Supermärkten, deren Haferflockenlieferanten mit einer automatischen Abfüllanlage arbeiten. Wenn hierbei ein paar Gramm in den Tüten fehlen würden, dann ginge das gleich in den Zentnerbereich und käme somit einem Betrugsversuch gleich. Während er in der Sesammühle die meisten Tüten eher großzügig – zugunsten der Kunden – abgewogen hatte.

Hans beruhigte ihn: Die Lebensmittelkontrolleure seien insgesamt eine große Hilfe für den Laden, weil sie gar nicht die Eigenmittel und -möglichkeiten hätten, jede Ware derart zu testen. So hätten sie zum Beispiel lange Zeit ungeschwefeltes Trockenobst aus Griechenland verkauft – bis eine Lebensmittelkontrolle ergab, dass das Trockenobst nicht nur nicht ungeschwefelt war, sondern sogar noch über das zulässige Maß hinaus geschwefelt. Nach solchen Kontrollen würden sie gerne die Strafgebühren zahlen.

Ab Mitte der 80er-Jahre machte der Sesammühle ausgerechnet das gestiegene Interesse der Kunden an Biolebensmitteln zu schaffen. Denn nicht nur richteten die Supermärkte dafür nun eigene Verkaufsregale ein und zogen damit wieder die Kunden in ihre Ketten zurück. Auch immer mehr Bioläden eröffneten, was zusammengenommen einen gewissen Preisverfall bei den Gesundprodukten bewirkte. In den 90ern eröffneten zudem die ersten Biosupermärkte.

In der Sesammühle befürchteten das Ehepaar Müller-Klug und eine Aushilfsverkaufskraft bereits das baldige Aus für den kleinen Laden, der sich optisch seit 1974 kaum verändert hatte. Auf der anderen Seite kam auf Initiative der Grünen eine EU-Förderung für ökologisch wirtschaftende Agrarbetriebe zustande, und es wurden immer mehr Bioanbauverbände gegründet. In summa etablierte sich die ökologische Landwirtschaft mit all ihren Nebenaspekten, alternativen Vertriebswegen und Kontrollinstanzen als fester Bestandteil der Volkswirtschaft. Dem kleinen Bioladen Sesammühle ist über alldem jedoch fast die „Nachhaltigkeit“ und „Zukunftsfähigkeit“ abhanden gekommen – und die „Kollektivität“ sowieso.

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