: Besonnenheit garantiert das eigene Überleben
Die US-Soldaten, die in der irakischen Hauptstadt Bagdad für Ordnung und Sicherheit sorgen sollen, fühlen sich in der Rolle des Besatzers nicht gerade wohl. „Die Iraker machen uns für alles, was nicht läuft, verantwortlich“, klagt ein US-Sergeant. Er und seine Leute fühlen sich bedroht
BAGDAD taz ■ Die Einwohner Bagdads erinnern sich dieser Tage gerne an einen alten Witz. Danach stellt Saddam Hussein potenziellen Nachfolgern eine Aufgabe, die beweisen soll, dass sie fähig sind, den Irak zu regieren. Wer es schafft, zwölf lebende Frösche gleichzeitig in eine Reihe zu setzen, hat sich qualifiziert. Doch sosehr sich die Kandidaten abmühen, immer wieder springen gleich mehrere Frösche aus der Reihe. Schließlich verliert Saddam die Geduld und zeigt den Kandidaten einen einfachen Trick. Er nimmt die zwölf Frösche, steckt sie in einen Sack und schwingt ihn minutenlang über seinem Kopf im Kreis. Als er sie dann aus dem Sack nimmt, lassen sich die schwindligen Reptilien allesamt willenlos in der Reihe aufstellen. „So müsst ihr über die Iraker herrschen. Lasst sie stets schwindlig sein“, rät Saddam, „damit sie nicht darüber nachdenken, wer sie regiert.“
Es scheint, als hätten die Interimsherrscher des Irak Saddams Lektion angenommen. Bagdad dreht sich zweieinhalb Monate nach Abdankung des Froschdompteurs in schwindelnden Kreisen. Alles dreht sich unter der US-Verwaltung um die immer gleichen Fragen wie Stromversorgung, Sicherheit und Jobs, sodass die irakischen Gleichgewichtsorgane keine festen Punkte finden, an denen sie über politische Angelegenheiten nachdenken können, und sich der Frage widmen, warum es immer noch keine Regierung gibt.
Tagsüber schwitzen fünf Millionen Einwohner in der weiterhin nahezu stromlosen Stadt ohne Ventilator oder Klimaanlage in ihrer Sauna, aus der es bei 50 Grad Innen- und Außentemperaturen kein Entrinnen gibt. Nachts taucht die Stadt in eine Dunkelheit, nur gelegentlich unterbrochen von einem Autoscheinwerfer, bevor auch diese Lichtquelle mit Anbruch der von den Amerikanern verhängten Ausgangssperre eine Stunde vor Mitternacht versiegt. Die über 80 in den letzten Wochen aus dem Boden geschosssenen Zeitungen in Bagdad sind voll Geschichten der Verbrechen des alten Regimes. Aber es sind die Artikel über die gewöhnliche Kriminalität auf den unsicheren Straßen, die die Leute hier beschäftigen.
Etwa die Geschichte von Warda Ali, die vor fünf Tagen vor ihrem Haus von einem Unbekannten mit gezogener Waffe entführt und später brutal vergewaltigt wurde. Warda ist neun Jahre alt und kein Einzelfall. Niemand führt im Irak Statistik, aber die Verschleppung von Schulmädchen ist Stadtgespräch. Viele Eltern haben Angst, ihre Töchter zur Schule zu schicken.
In der Bagdader Polizeistation Adhamiyah fühlt sich der irakische Polzeioberst Walid Schuki, als seien ihm selbst Handschellen angelegt. „Die Amerikaner gaben uns Winteruniformen, Pistolen ohne Munition und keinerlei Autorität. Wie können wir da ernsthaft arbeiten?“, fragt er bitter. Sergeant Brown aus Michigan hat nicht nur eine geladene Waffe, sondern auch die Autorität, die dem irakischen Polizeiobersten fehlt. Aber auch er stellt die eine oder andere Frage. Seine Einheit soll im Bagdader Bezirk Jadriya dafür sorgen, dass sich die Bürger sicherer fühlen. Derweil fühlt er selbst sich weder sicher noch wohl in seiner Haut. Heute hat er mit seinen Männern eine Straßensperre bei der Auffahrt zu einer der Tigrisbrücken errichtet. „Das ist kein Krieg mehr, und wir wissen nicht, wo genau der Feind sein soll“, beschreibt er die Situation. Neulich wollte einer seiner Kollegen in einem irakischen Laden eine Musik-CD kaufen und wurde von einem Unbekannten niedergeschossen. Sergeant Brown kann aber irgendwie verstehen, dass die Iraker langsam die Geduld verlieren. „Wir haben ihnen die Freiheit versprochen, stattdessen setzen wir hier einen Ausnahmezustand durch“, reflektiert er seine Besatzerrolle.
Der 36-Jährige ist ein nachdenklicher Mensch, der 10 Jahre älter aussieht, als er wirklich ist, und mindestes 20 Jahre älter als die Grünschnäbel, die er befehligt. Anders als mancher Offizier seiner Einheit hat Sergeant Brown bisher nur wenige Iraker verhaften lassen, auch seine Waffe sitzt nicht locker. Neulich, erzählt er, habe er einen handgreiflichen Streit zwischen Irakern schlichten sollen. Sergeant Brown verstand nichts von dem wortreichen arabischen Streit. Rein instinktiv habe er in die Luft schießen wollen, es aber dann unterlassen, aus Angst, jemand zu verletzen. Stattdessen brüllte er sich einfach die Lunge aus dem Hals. Die Streithähne sahen ihn verwundert an und ließen von einander ab. Der 36-Jährige ist stolz auf die Besonnenheit seiner Männer. Eine andere Einheit hätte vielleicht vor lauter Nervosität das Feuer eröffnet.
Als Sergeant Brown das alles erzählt, nähert sich ein aufgebrachter irakischer Mann und deutet mit dem Finger auf ihn. „Ihr habt mein Baby umgebracht!“, schreit er wütend und erzählt die Geschichte, wie nur wenige Stunden vor dem Fall Bagdads eine amerikanische Panzergranate das Auto getroffen hat, in dem seine Tochter saß. „Ich habe deine Tochter nicht erschossen“, erklärt Sergeant Brown, hält sein Gewehr fester und tritt sichtlich nervös ein paar Schritte zurück. „Der Mörder trug aber genau die gleiche Uniform wie du!“, ruft der Iraker, bevor er von anderen Irakern abgedrängt und beruhigt wird.
„Sie machen uns einfach für alles, was falsch läuft, verantwortlich“, beklagt sich Sergeant Brown, als sich ein weiterer Iraker auf Krücken nähert. Er rollt sein Hosenbein hoch und deutet auf sein vernarbtes Bein: „Ein Geschenk der Amerikaner.“ Sergeant Brown beobachtet ihn aus sicherer Distanz. „Es tut mir Leid, was dem Baby und dem Mann passiert ist“, sagt er hilflos. Der Mann mit der Krücke humpelt langsam davon. „Ich versuche, mir sein Gesicht zu merken“, erklärt Sergeant Brown und fügt hinzu: „Wer weiß, vielleicht kommt er das nächste Mal mit einer Kalaschnikow.“ KARIM EL-GAWHARY
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