: Dem Alltag eine Form abringen
Seit kurzem steht der Sonnenhof, das Kinderhospiz in Pankow, Kindern mit einer lebenslimitierenden Krankheit offen. Etwa 500 Kinder sterben jährlich in der Region Berlin-Brandenburg an Krebs und anderen Krankheiten. Eine Herberge als letzte Wohngemeinschaft für die Kranken – und deren Eltern
von WALTRAUD SCHWAB
Das Haus heißt „Sonnenhof“. In warmem, erdigem Gelb ist es gestrichen. Leichtigkeit strahlt die Farbe aus. Wobei der dem Ockerfarbenen zugeneigte Ton der Fassade mehr auf den Herbst verweist als auf den Frühling. Denn obwohl in dieser fast 100 Jahre alten Villa in Pankow Kinder wohnen, ist der Sommer für sie schon vorbei. Sie haben eine „lebenslimitierende Krankheit“, so der Jargon der Ärzte. „Limitierend“ – im günstigsten Fall verstehen die Kinder das vornehme, neutral anmutende Wort nicht. Auch nicht „Finalphase“ oder „austherapiert“. Das nämlich sind sie. Aus medizinischer Sicht ist ihr Leben nicht mehr zu retten.
Leukämie, Krebs, Erkrankungen des Stoffwechsels, des Nervensystems oder des Herzens – das sind Krankheiten, an denen auch Kinder sterben. Im letzten Jahr, so das Statistische Bundesamt, waren es in Deutschland 5.200 Kinder unter 15 Jahren. Allein an Krebs erkranken jährlich 1.800 Kinder.
Die Dramatik, die sich hinter den Diagnosen verbirgt, trifft die Eltern mitunter mehr als das Kind. Für die sei das Sterben wie weggehen, meint Jürgen Schulz, der Initiator des Sonnenhofs, des ersten Hospizes für Kinder in der Region Berlin-Brandenburg. Sterben sei für sie ähnlich wie das Spiel von „weg“ und „da“. Hände vor die Augen gelegt bedeutet „nicht mehr sein“, Hände wieder herunter genommen ist „sein“. Pädagogen sprechen davon, dass der Tod bis zum Alter von etwa 12 Jahren, wenn Kinder anfangen, für sich selbst Lebenspläne zu entwerfen, eher als etwas Neutrales wahrgenommen wird. Oft sorgten sich die Kinder eher um ihre Eltern, weil sie spüren, dass diese traurig sein werden, wenn sie tot sind, meint Schulz. Er weiß, wovon er spricht. 1982 starb sein fast 8-jähriger Sohn Björn an Leukämie.
Der Sonnenhof ist Teil des Lebenswerkes von Jürgen Schulz. Mit einer Eltern-Selbsthilfegruppe nach dem Tod des Sohnes fing es an, denn die Leidensgeschichte der sterbenskranken Kinder ist meist auch die Leidensgeschichte der betroffenen Familien. Geschwister kommen zu kurz und fühlen sich vernachlässigt. Eltern verausgaben sich bei der Pflege des kranken Kindes, die letztlich nahezu immer an ihnen hängen bleibt. Mitunter muss sie jahrelang und rund um die Uhr geleistet werden. Dabei geraten die Pflegenden nicht selten an den Rand ihrer materiellen, physischen und psychischen Existenz. Dafür sprechen auch statistische Zahlen: In 70 Prozent der Familien, in denen ein todkrankes Kind zu versorgen ist, kommt es im Verlauf der Krankheit zur Trennung der Eltern. „In der Regel steigen die Männer aus“, weiß Schulz zu berichten. Die Mütter bleiben mit den Kindern zurück. Insgesamt beziffert Schulz die Alleinerziehenden-Rate unter den Betroffenen auf 80 Prozent.
Ein jüdisches Fürsorgeheim war früher in dem Gebäude, in dem der Sonnenhof nun letzte Kinderheimat ist. 1942 wurden die Bewohnerinnen und Bewohner deportiert. Nach der Wende wurde das Haus mit 1,5 Hektar großem Garten zeitweise als Altenheim genutzt. Der Umbau zum Kinderhospiz kostete die von Jürgen Schulz initiierte Björn-Schulz-Stiftung, die Träger der Einrichtung ist, 1,8 Millionen Euro, die ausschließlich durch Spenden getragen wurden. Im Dezember wurde das Haus eingeweiht; vor drei Monaten konnten die ersten Patienten einziehen. „Gäste“ sagen die PflegerInnen und Ärzte zu ihnen.
„Kein Kind ist bisher im Sonnenhof gestorben“, sagt Schulz. Er sagt es mit Stolz in der Stimme. Denn das Hospiz soll nicht letzte Lebensstation der Kinder sein, sondern eine Herberge, in der die Kranken, aber auch deren Eltern und Geschwister, in einer geschützten und betreuten Umgebung aufatmen können.
Die 12 Zimmer sind groß. Betreuungspersonen können dort mit übernachten. Zentraler Aufenthaltsort im Haus ist allerdings die riesige Wohnküche, in der gemeinsam gekocht, gegessen und gespielt wird. Dazu kommen ein großer Wintergarten, ein Bewegungsbad im Keller und ein „Sznoezel-Zimmer“, in dem Licht, Musik und sanfte Bewegung nicht nur die Sinne anregen, sondern auch die Entspannung fördern sollen. Für Eltern gibt es zudem eine eigene Etage mit Aufenthaltsraum, Küche und Terrasse. Drei Familien kommen gleichzeitig hier unter. Alle Gäste dürfen sich, anders als in den Krankenhäusern, überall aufhalten.
Im Keller des Hauses ist der Abschiedsraum, in dem verstorbene Kinder aufgebahrt werden können. Er hat einen eigenen Zugang zum noch nicht fertig gestalteten Garten. Noch immer wird gebaut. Derzeit werden die Ställe für die Tiere des Streichelzoos fertig gestellt. Der Umbau der Remise zur Disco ist ebenfalls noch nicht abgeschlossen. Denn im Sonnenhof, in dem junge Leute bis 30 Jahre aufgenommen werden, soll „Sterbenszeit auch Lebenszeit sein“, so das Motto.
Noch ist nicht viel zu spüren vom Durcheinander, das Kinder an einen Ort bringen, der sich im Grunde als große Wohngemeinschaft versteht. Alles riecht neu und frisch gestrichen. Dem Alltag muss hier erst eine Form abgerungen werden. Denn die Idee, die dem Hospiz zugrunde liegt, und die Finanzierung des Aufenthaltes ergänzen sich nicht wirklich. Als kalkulatorische Grundlage sehen die gesetzlichen Krankenkassen einen 28-tägigen Aufenthalt im Hospiz vor, wobei Verlängerungen allerdings möglich sein sollen. Ein Tag im Hospiz kostet ungefähr 225 Euro. Die Kassen übernehmen 80 Prozent der Kosten, 10 Prozent muss der Träger beisteuern, 10 Prozent die Gäste. Für viele Familien oder Alleinerziehende mit krankem Kind ist es unmöglich, das Geld aufzubringen. Das Ideal, das Jürgen Schulz vertritt, verträgt sich nicht mit einer zeitlichen Limitierung des Aufenthalts, wenn die Umstände dies verlangen. Es verträgt sich auch nicht mit dem Gedanken, dass Unterstützung in so einer Situation am Geld scheitern könnte.
Schulz ist von Hause aus Kaufmann, jahrelang hat er bei IBM im Management gearbeitet. Sein Know-how kommt dem Sonnenhof zugute. Um dem ganzheitlichen Ansatz, den er verfolgt, Genüge zu tun, setzt er sowohl auf Ehrenamtlichkeit als auch auf Sponsoren. Die Freiwilligen werden in umfassenden Schulungen zu „Familienbegleitern“ ausgebildet. 103 Begleiter und Begleiterinnen sind bereits im Einsatz. Sie unterstützen Familien mit sterbenskranken Kindern vor, während und nach deren Tod.
Das zweite Standbein: Sponsorengelder. Jürgen Schulz ist auf diesem Feld durchaus erfolgreich. Er agiert dort, wo Geld vermutlich kein Problem ist: Britische und kanadische Botschafterinnen haben bereits ihre Benefizbasare für das Hospiz veranstaltet und Golfer haben für den Sonnenhof gegolft. Bei Biolek wurde Schulzens Lebensgeschichte medienwirksam vermarktet, konservative Parteistiftungen und engagierte Schlagermusiker haben ihren Obolus geleistet. Bei Galadiners wurde für den guten Zweck gegessen und sogar Hilfefonds wurden angedacht, die es Begüterten ermöglichen, Rendite und Steuerersparnis mit gutem Zweck und gutem Gewissen zu verknüpfen. Schulzens Expertise ist notwendig. Damit seine Idee vom lebenswerten Umgang mit todkranken Kindern nicht an der Finanzierung der Kassen scheitert, brauche er jährlich 600.000 Euro, sagt er. „Jeder Cent zählt.“
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