: Amnestie im Tausch gegen Geiseln
Frankreichs Präsident Jacques Chirac soll 1995 dem bosnischen Serbengeneral Mladić Straffreiheit zugesagt haben, um die Freilassung französischer Geiseln zu erreichen. Das besagt ein Protokoll. Diplomaten und Politiker in Sarajevo bezweifeln das
aus Sarajevo ERICH RATHFELDER
In Sarajevo stehen ausländische Diplomaten und einheimische Politiker Informationen skeptisch gegenüber, wonach der französische Präsident Jacques Chirac Straffreiheit für den bosnischen Serbengeneral Ratko Mladić versprochen hat. Nach Presseberichten soll Chirac vor Ende des Krieges in Bosnien im Herbst 1995 mit Ratko Mladić übereingekommen sein, im Austausch für von Serben als Geiseln festgehaltene französische UN-Soldaten Mladić von der Strafverfolgung auszunehmen.
An einem von westlichen Geheimdiensten abgehörten Telefongespräch Anfang Dezember 1995 sollen der damalige Präsident Jugoslawiens, Zoran Lilić, der serbische Präsident Slobodan Milošević und sein Generalstabschef Momčilo Perisić, beteiligt gewesen sein. In den Protokollen ist die Rede von einer Garantie Chiracs für den als Kriegsverbrecher gesuchten Mladić, ihn nicht an das UN-Tribunal in Den Haag auszuliefern. Lilić bestätigte am Mittwoch vergangener Woche, dass dieses Protokoll authentisch ist.
Westliche Diplomaten erklären in Sarajevo allerdings übereinstimmend, dass sich das Protokoll auf eine sekundäre Quelle beziehe und daher einen fragwürdigen Wahrheitsgehalt habe. Mladić könnte die genannten Politiker über Verhandlungen mit der französischen Regierung informiert und seine Interpretation der Gespräche mitgeliefert haben. Selbstverständlich habe die französische Regierung damals versucht, die als Geiseln festgenommenen Soldaten freizubekommen. Es entspräche jedoch nicht diplomatischen Gepflogenheiten, dass der Präsident eines Landes direkt mit einem Warlord verhandele. Lediglich Unterhändler könnten an diesen Gesprächen beteiligt gewesen sein. Weiter übersteige es die Macht auch eines französischen Präsidenten, solche Versprechungen abzugeben, denn das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag sei als Institution nicht abhängig von Paris.
Weiter seien vom Tribunal zum damaligen Zeitpunkt noch keine Anklagen gegen Ratko Maldić und dem ebenfalls noch heute flüchtigen politischen Führer der Serben, Radovan Karadžić, formuliert gewesen. „In den bisherigen Berichten sind die politischen Ebenen durcheinander gebracht“, erklärt der Pressesprecher der französischen Botschaft, Benoît Schneider.
Mitarbeiter von westlichen Geheimdiensten gehen davon aus, dass damals der gesamte Funk- und Telefonverkehr der beteiligten Kriegsparteien abgehört worden ist. Die Frage, warum das Protokoll dem Tribunal in Den Haag jetzt zugespielt worden ist, verweise auf „Gegensätze in der internationalen Gemeinschaft nach dem Irakkrieg“. Auch europäische Mittelmächte kämen als Informanten in Frage.
Weiter weisen ausländische Diplomaten darauf hin, dass Chirac nach seiner Wahl im Mai 1995 das Steuer der französischen Balkanpolitik herumgerissen hat. Während sein Vorgänger François Mitterrand eine proserbische Position eingenommen und die Gräueltaten der serbischen Militärs und Politiker in Bosnien heruntergespielt habe, sei Chirac ein Befürworter des militärischen Eingreifens der Nato zur Beendigung des Krieges gewesen. Selbst Hasan Čengić, nach Alija Izetbegović wohl einflussreichste Person der bosnischen Muslime, der angesichts des Genozids an den Muslimen keinen Anlass hat, die Geschichte zu beschönigen, nimmt Chirac in dieser Frage in Schutz.
Tatsache ist, dass französische Militärs manchmal eigenwillig handelten. „Zwar hat Chirac die damalige französische Politik korrigiert, im Apparat vor Ort gab es aber noch viele Anhänger des alten Kurses“, so ein deutscher Diplomat.
Wahrscheinlich der Wahrheit am nächsten kommt eine andere Version. Chirac war im Fall Mladić über die Gespräche seiner Unterhändler informiert und hat grünes Licht für Versprechungen Mladić gegenüber gegeben, ohne sie jedoch offiziell zu autorisieren. Nachdem die Geiseln frei waren, hatte er freie Hand, die Versprechen zu brechen. „Auch das gehört zu den diplomatischen Gepflogenheiten“, sagt ein europäischer Botschafter. „Tatsache bleibt, dass weder Karadžić noch Mladić bisher nach Den Haag gebracht wurden.“ Im Klartext: Viele Mächte haben Interesse daran, dass dies nicht geschieht. Dann könnten weit kompromittierendere Verhandlungen aufgedeckt werden.
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