piwik no script img

10 deutsche Küchensünden

Sie begegnen uns täglich: warmer Rotwein und Vegetarier-teller, Radieschen-Carpaccio, betonierte Soßen und Fleischberge wie für Raubtiere. Das Register der Missetaten ist nicht kleiner geworden, nur anders

VON MANFRED KRIENER

Die deutsche Küche hat deutlich aufgeholt. Sie hat sich internationalen Einflüssen geöffnet. Das spürt man – bis in die letzte Doppelhaushälfte im Hunsrück. Ingwerstäbchen und Kokosmilch, Tiramisu und Prosecco, Feta und Hirtenrolle, Baguette und Camembert, Rioja und Serranoschinken, Sushi und Sojasoße, Nougattascherln und Serviettenknödel – der Magenpförtner der Deutschen lässt anstandslos alles passieren. Die mystifizierten Namen der internationalen Küche gehören zu unserem Alltag wie das Bettenlüften und das Zähneputzen. Wir sind alle schwer mediterran und crossover. Irgendwie modern halt.

Die deutsche Küche ist internationaler geworden, aber ist sie auch wirklich besser? Für die gehobene Gastronomie darf diese Frage mit Ja beantwortet werden. Doch in tausenden kleinen Gaststätten und Wirtshäusern, Kantinen und Mensen dominieren vorgefertigte Industrieprodukte, schlechtes Fleisch und das Aroma der Lieblosigkeit. Hier eine persönliche Liste von zehn chronischen Missetaten.

Die riesige Fleischportion

Die Rangfolge unseres Essens ist unbeeindruckt von Gesundheitspäpsten und Mortalitätskurven die gleiche geblieben. Im Mittelpunkt steht die Fleischportion, und die muss gewaltig sein, am besten über den Tellerrand wabern. Die Gesichter der Deutschen, wenn sie die Löwenrationen vorgesetzt bekommen, haben immer noch dasselbe Strahlen. Drei dicke Scheiben Fleisch vom Braten geschnitten, dazu ein halber Liter Soße, eine Hand voll Pommes frites und ein Gemüsearrangement, das über die Dekofunktion selten hinauskommt. So ist es in vielen Küchen geblieben. Das Schnitzel sollte zumindest die Größe eines Lenkrads haben, gerne werden auch zwei serviert. Das geht natürlich nur, wenn der Rohstoff aus übelster Tierhaltung kommt, denn billig muss es ja auch noch sein. Wer das Unheil ahnt und vorsorglich nur eine halbe Fleischportion bestellen will, wird entweder ignoriert oder auf den Seniorenteller verwiesen.

Die Glibbersoße

Sie ist nicht mehr so furchtbar, wie sie noch in den 60er- und 70er-Jahren war. Aber noch immer muss sich eine anständige Soße dicht vor dem Ende des flüssigen Aggregatzustands bewegen. Inzwischen werden zwar keine ganzen Mehlsäcke mehr hineingerührt, dafür gerne größere Mengen Stärke vom Johannisbrotbaum. Und noch immer wird paketweise industrieller Soßenbinder einbetoniert, der in allen Geschmacksrichtungen angeboten wird. Manche Soßen schunkeln wie Wackelpudding auf dem Teller. Die Menge ist stets so bemessen, dass kleine Kinder darin ertrinken können. Trotzdem brüllen noch genug Gäste nach zusätzlichen Portionen, die in vielen Häusern schon präventiv im extra Schälchen gereicht werden.

Vorsicht, Vegetarier!

Eng mit Punkt eins verknüpft ist die Behandlung des Vegetariers. Wer kein Fleisch isst, muss zur Strafe entweder ein Fleischgericht ohne Fleisch bestellen oder ist auf die Errungenschaft des Vegetariertellers zurückgeworfen, der in vielen Häusern neben dem Kinder- und Seniorenteller auf der Karte steht. In deutschen Provinzen ist das Auswahlverhältnis üblicherweise 19:1. Unter zwanzig Gerichten auf der Karte befinden sich neunzehn Fleischspeisen und ein Blumenkohlauflauf für unsere vegetarischen Freunde. Und für die Hunde gibt’s ein Schüsselchen Wasser. Was haben Vegetarier eigentlich Schreckliches getan?

Warmer Rotwein

Kommen Sie niemals auf die Idee, in Deutschland während der warmen Jahreszeit einen Rotwein zu bestellen. Die Diskurse mit Bedienungen und Restaurantbesitzern sind legendär. Rotwein, das glauben noch immer 98 Prozent aller Deutschen, müsse bei Zimmertemperatur getrunken werden. Wenn das Zimmer im Hochsommer bei 28 Grad Celsius vor sich hin dampft, muss der Wein mitdampfen. Zu allem Übel ist deutscher Rotwein eher elegant und gerbstoffarm, er sollte selbst bei Raureif nicht über 16 Grad serviert werden. Ein leichter Trollinger, die Lieblingsrebsorte der Schwaben, schmeckt am besten bei 12 bis 14 Grad. Statt mit solchen Forderungen einen Gastwirt zu behelligen, in dessen Haus der Rotspon seit 450 Jahren „temperiert“ ausgeschenkt wird, sollte man besser Malzbier ordern. Bedienungen weisen einen rüde zurecht, holen im Ernstfall den Chef zu Hilfe, um dann zu zweit dem Gast ein für alle Mal klar zu machen, dass ihn sein Ansinnen, den Wein zu kühlen, für immer als inkompetenten Banausen abstempelt. Solche Dispute können noch den lauesten Sommerabend in einen Beißkrampf verwandeln. Da hilft nur ein Lokalwechsel. Doch woanders ist es auch nicht besser. Also: Weißwein!

Wein muss teuer oder schlecht sein

Gegen Profitraten von 300 Prozent hat niemand etwas einzuwenden. Der Wirt ist auch nur ein Mensch. Aber müssen es gleich 700 Prozent sein? Wein in Deutschland ist sündteuer. Fast überall. Weintrinker müssen dafür büßen, dass sie kein Bier bestellen. Wer meckert, wird auf „unsere offenen Weine“ verwiesen. Es gehört zu den üblichen Praktiken, die lausigsten Gewächse offen und in großer Menge auszuschenken. Die guten bleiben in der Flasche und im Keller liegen, bis sie überlagert sind. Da eine ganze Flasche oft zu viel ist, vor allem wenn man nach der Vorspeise von Weiß zu Rot wechseln möchte, ist man tatsächlich auf die offen ausgeschenkten Weine angewiesen: in der Regel einfachste Literware, die selten begeistert.

Grappa- und Carpaccioseuche

Minderwertigkeitskomplexe und Inkompetenz sorgen dafür, dass ausländische Produkte höher angesehen sind, egal wie dürftig ihre Qualität auch ist. Prosecco und Frizzante, oft in grausamen Qualitäten ausgeschenkt, stehlen noch immer jedem anständigen deutschen Winzersekt die Schau. Kein Wirt würde es wagen, heimischen Perlwein auf die Karte zu setzen. Und wenn, dann nur maskiert als „badischen Prosecco“. Guten Tresterbrand trinkt niemand, schlechten Grappa trinken alle. Auch der kratzigste und überteuertste Fusel wird noch mit heftig rollendem R wie eine rare Preziose serviert. Weder Gäste noch Wirte können die Qualitäten wirklich beurteilen. Es geht um Etiketten und Illusionen, höchst selten um Geschmack. Die Verirrungen machen inzwischen selbst vor einem Radieschen-Carpaccio nicht mehr halt. Hauptsache mediterran.

Die Entsorgung der eigenen Wurzeln

In welchem Wirtshaus gibt es klassischen Schmorbraten mit Kartoffel- oder Selleriepüree, Krautwickel, Rindsrouladen, Königsberger Klopse, Sauerkraut aus dem Fass, Leberspatzen, Dampfnudeln, Rauchfleisch, selbst gemachte Hühnersuppe, Bratkartoffeln, gekochte Gans mit Meerrettich, Blutwurst mit gebratenen Äpfeln, arme Ritter, Kohlrouladen, Berliner Leber? Nicht alles, was deutsche Küche ist und war, muss konserviert werden, aber vieles wartet auf Wiederentdeckung und Verfeinerung.

Der Personalnotstand

„Sie heißen Kim und Manu, und sie haben keine Lust.“ So beschrieb der badische Food-Journalist Wolfgang Abel junge Damen im Kellnerinnenkostüm und den Notstand beim Gastronomiepersonal. Tatsächlich binden immer mehr abgenervte junge Leute die Kellnerschürze um, die sich zu höheren Aufgaben berufen fühlen: „Eigentlich würden sie lieber modeln oder zu einem Casting gehen …“ Kellnern wird zum Nebenjob für Unbedarfte, Service light macht sich breit. Freundlichkeit, Zuwendung, das Umsorgen des Gastes werden zum Luxus vergangener Zeiten. Und wehe, ein Gast hat ein Problem. Auf die Frage, ob der Chardonnay im kleinen Holzfass ausgebaut wurde, antwortet ein Kellner: „Nein, den kriegen wir in Flaschen.“ Dass Kellner und Bedienungen katastrophal bezahlt werden und deshalb kaum Motivation entsteht, komplettiert die Misere.

Die regionale Lüge

Kein Gasthof im ganzen Land, der sich nicht zur Regionalität bekennen würde. Wir sind alle furchtbar regional. Erst wenn man genauer hinsieht, erkennt man, dass hinter diesem Bekenntnis nichts als eine leere Speisekarte steht. Industrielle Fertigprodukte beherrschen das Terrain. Wenn es ernst wird, kneift die Gastronomie. Als in Süddeutschland Wirtshäuser und Restaurants systematisch gefragt wurden, ob sie als regionale Spezialität Fleisch vom Hinterwälder Rind – der kleinsten Rinderrasse Europas – auf ihre Karte nehmen, waren nur zwei Betriebe dazu bereit. Das Hinterwälder Fleisch ist etwas teurer, weil die Tiere klein und temperamentvoll sind und weniger Fleisch ansetzen. Um regionale Produkte muss man sich bemühen, sie kommen nicht ins Haus geflogen. Da servieren die meisten Etablissements die Melone dann doch lieber mit Prosciutto di Parma, als in ihrer Umgebung einen guten Schinken zu suchen.

Hat’s geschmeckt?

Auch im dürftigsten Lokal der Republik würde der Kellner niemals den Tisch abräumen, ohne die Standardfrage in den Raum zu nuscheln. In manchen Restaurants wird während eines fünfgängigen Menüs gnadenlos fünfmal gefragt. Es wird eigentlich immer gefragt, egal wie gut oder schlecht das Essen war. Und bei der Antwort wird genauso konstant gelogen, dass sich die Bierstängel biegen. Die Kunst der Reklamation ist kaum verbreitet. Sollte dereinst ein Gast mit schweren Intoxikationserscheinungen vom ärztlichen Notdienst direkt aus dem Restaurant auf die Trage gelegt und zur Magenspülung ins Kreiskrankenhaus chauffiert werden, so darf er sich des Beistands des Kellners sicher sein. Der würde ihm auch dann noch hinterherschreien: Hat’s denn nicht geschmeckt?

MANFRED KRIENER, 50, koordiniert und konzipiert die taz-Sättigungsbeilage. Er schreibt gern über Öko- und andere Katastrophen

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen