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Abschied vom alten Spelunkenviertel

Immer mehr Pariser entdecken Marseille als Naherholungsort. In nur drei Stunden bringt der Schnellzug die Hauptstädter ans Mittelmeer. Im Hafenviertel Panier steigen deshalb die Mieten

VON ROBERT B. FISHMAN

Ein Gespenst geht um im Panier, dem ältesten Viertel Marseilles. Das Gespenst hat Geld, viel Geld und kommt wie alles, was die Stadt scheinbar oder tatsächlich bedroht, die Rhone herunter aus dem Norden. Mit dem Schnellzug TGV sind sie in drei Stunden hier, die Pariser.

„Sie richten sich in den alten Wohnungen ihre Zweitwohnsitze ein und vertreiben uns. Das lassen wir uns nicht gefallen“, schimpft Zéphora. Die kleine, kugelrunde Frau mit dem Lockenkopf ist im Panier geboren und aufgewachsen. Sie hat nie anderswo gelebt. Um die Armen zu vertreiben, erhöhe die Stadt die Grundsteuern, bis sich nur noch Betuchte die Wohnungen im Panier leisten könnten, behauptet sie. „Die wollen uns in die Nordstadt stecken.“ Das sind die grauen Plattenbauviertel außerhalb, wo es keine Arbeit und wenig Perspektive gibt, wo die Einwanderer aus Nordafrika angeblich ihre Schafe auf dem Balkon schlachten und wo die rassistische Nationale Front ihre Stimmen holt. „Wir wehren uns“, verspricht Zéphora und droht dem Bürgermeister und seinem Stadtrat „ein Feuerwerk“ an.

Noch erscheint das Panier, das höchstens zwei mal zwei Kilometer kleine Altbauviertel hinter dem Rathaus über dem Alten Hafen, wie ein idyllisches Dorf in der lärmenden Millionenstadt. Auf den engen Straßen, durch die höchstens ein Kleinwagen passt, spielen die Kinder Fußball. Nachbarn unterhalten sich von Fenster zu Fenster über die Gassen hinweg, und am Sonntag trifft man sich draußen zum Grillen. „Jeder bringt was mit, und dann feiern wir hier zusammen, jeden Sonntag, wenn das Wetter mitmacht.“

Die Einnahmen gehen an den Verein „Kinder, Eltern und Institutionen“, der sich um Jugendliche und Familien in Schwierigkeiten kümmert. Zéphora ist die Vorsitzende. „Wir sind draußen, kommt vorbei“, hat sie an die Tafel am Vereinslokal in der rue de l’Évêché geschrieben. Gegenüber sieht man die ersten Zeichen des neuen Panier. Immer mehr der seit Jahrzehnten verfallenden Altbauten bekommen einen frischen Anstrich und neue, leuchtend blaue oder knallrote Fensterläden. Ins Erdgeschoss ziehen Boutiquen oder Geschäfte wie der Laden für handgeschöpftes Papier. In der ehemaligen Metzgerei hausen jetzt seltene Vögel. L’Oiseau Rare („Der seltene Vogel“) haben Bruno, der Goldschmied, und Elisa, die Glaskünstlerin, ihr Atelier genannt.

„Klar haben die Leute erst komisch geguckt“, erinnert sich Bruno. Viele haben sich gewundert, dass es da, wo sie immer ihre Wurst gekauft haben, jetzt ausgefallenen Schmuck und bunte Glasdekorationen gibt. Inzwischen fühlen sich die beiden akzeptiert. Die Tür zu ihrem kleinen Laden steht offen. Wenn sie feiern, kommen die Leute einfach herein und trinken ein Glas Wein mit. Auch Elisa ist gerne hier im Viertel, auch wenn es manchmal sehr eng ist. „Die Leute reden viel übereinander.“

Valérie, die ein paar Straßen weiter einen Töpferladen aufgemacht hat, liebt das Panier. „Die Steine“, sagt sie, „sind voll Energie“. Immerhin liegen manche schon mehr als 2.000 Jahre hier. Auf den engen Straßen fahren kaum Autos, es gibt keine Hochhäuser. „Menschlich, überschaubar“ nennt Valérie den Stadtteil, „wie eine kleine Insel“.

Das Panier geht den Weg vieler ehemaliger Kleine-Leute-Viertel, sei es München-Schwabing, Prenzlauer Berg in Berlin, die Altstadt von Nizza oder der Montmartre in Paris. Jahrelang interessiert sich niemand für sie. Die Häuser verkommen, weil die Bewohner kein Geld haben. Die niedrigen Mieten ziehen Studenten und Künstler an, die verrückte Läden und Ateliers aufmachen. Dann kommen die Designer, die Boutiquen und Leute, die sich ein schickes Nest in der Innenstadt einrichten wollen. Sie retten mit ihrem Geld viele Gebäude vor dem endgültigen Verfall.

„Die wollen hier einen Montmartre machen, ein Freilichtmuseum“, fürchten viele Panier-Bewohner. Wie das aussehen könnte, zeigt ein riesiges Plakat, das die Stadt mitten auf einer großen Freifläche aufgestellt hat. „Wohnumfeldverbesserung im Panier“ steht darauf, und darunter wandelt eine brave Kleinfamilie über eine große, gepflasterte Fläche. An deren Rand sind Betonkübel mit Stechpalmen abgebildet. Es könnte auch die Fußgängerzone von Großkleckersdorf sein.

Platz hat hier 1943 die deutsche Wehrmacht geschaffen. Die Marseiller Polizei, die Drogenhandel, Kleinkriminalität und Prostitution nicht in den Griff bekam, freute sich über den Vorschlag der deutschen Besatzer: Um „Ordnung“ zu schaffen, sprengten sie 14 Hektar Panier in die Luft. Nach dem Krieg entstanden im unteren Teil des Viertels direkt am Hafen Wohnblocks, die an die Architektur der Stalinzeit in Ostberlin und in osteuropäischen Großstädten erinnern.

Damit war ein großer Teil der Welt verschwunden, durch die sich Ende der Zwanziger- und Anfang der Dreißigerjahre der deutsche Exilschriftsteller Walter Benjamin mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination treiben ließ. Zunächst auf der Suche nach Haschisch und Inspiration, später auf der Flucht vor den Nazis, war er am Hafen von Marseille gestrandet, wo er 1940 wie viele andere deutsche Intellektuelle lange vergeblich auf die rettende Ausreisemöglichkeit nach Spanien wartete. Mittellos durchstreifte er das Stadtviertel der Halsabschneider, Hehler und Zuhälter: streunende Hunde, offene Mülltonnen, das Geschrei der Möwen und der Gestank nach Urin, der sich mit dem salzigen Duft des nahen Meeres mischte.

Heute führt eine in die Provence ausgewanderte Deutsche Touristen und Einheimische auf den Spuren Walter Benjamins durch das Panier. So pittoresk war das Leben hier nicht, schon gar nicht die Prostitution“, wirft eine Zuhörerin um die fünfzig ein, „ich musste als Mädchen hier immer durch. Das war gar nicht angenehm.“ Zwischen den „normalen Leuten“ und den Kriminellen und Prostituierten war „auf engstem Raum eine unsichtbare Mauer“. Auch die Geschichten vom einfachen Marseiller, der hier im Panier mit seiner Familie in und von seinem kleinen Laden lebte, hält die kritische Besucherin für einen Mythos: „Mein Urgroßvater hatte hier so ein kleines Café, er hat getrunken und seinen Sohn geschlagen – das war das echte Leben.“

Einen letzten Rest davon erahnt man heute noch in der Passage de Lorette am Nordrand des Viertels. Zwischen den graubraunen fünf- oder sechsstöckigen Mietshäusern, von denen der Putz bröckelt, haben die Bewohner ihre Wäscheleinen gespannt. Von ihren Fenstern aus können sie dem Nachbarn gegenüber fast die Hand geben. Keine fünf Meter ist der geteerte Innenhof breit. Im Winter erreicht das Licht nur die oberen Stockwerke. Unten riecht es muffig-feucht.

Marseille, das „Chicago Frankreichs“, Stadt der Gegensätze, der Kriminellen und Zuhälter, der Schmuggler und Gestrandeten, der Einwanderer und der Suchenden und der Verlorenen. Legende und Wahrheit. Vor 2.600 Jahren siedelten die ersten Menschen an einer Quelle im heutigen Panier. In der geschützten Bucht legten Griechen einen Hafen an. Generationen von Flüchtlingen, Glücksrittern, Hoffnungsvollen und Verzweifelten sind seitdem hier an Land gegangen, Phönizier, Römer, Italiener, Spanier, Juden, Araber, Algerienfranzosen und zuletzt tausende von Nordafrikanern, die auf dem Weg ins bessere Europa hier hängen geblieben sind.

Im Norden zieht die schnurgerade, vierspurige rue de la République dem Panier eine messerscharfe Grenze. Heute beginnt hier mit den einst prächtigen Bürgerhäusern aus Baron Haussmanns Zeit der nördlichste Teil Afrikas, die Belsunce mit ihren arabischen Läden, Teestuben und Märkten. Von Westen her hat das moderne, das Weltstadt-Marseille, dem Panier schon seinen ersten Stempel aufgedrückt – so behutsam, als wollten die Planer den Alteingesessenen beweisen, dass sie nichts zu befürchten haben. Die Alte Charité, im 17. Jahrhundert als Armenhaus und Hospital errichtet, hat man zum Museum und Kulturzentrum umgebaut, nachts dezent in Rosa und Blau in den Farbtönen des Sonnenuntergangs erleuchtet.

Zéphore könnte der Kampf um ihr Viertel egal sein. Sie ist eine der wenigen Hausbesitzer. Niemand kann sie hinaussanieren. Aber, so sagt sie wütend, „es ist mein Viertel, und die Leute hier, egal ob Franzosen oder Einwanderer, Muslime, Juden, Christen oder sonst etwas sind meine Nachbarn, meine Freunde, meine Familie.“

Die Literaturkritikerin Sabine Günther bietet auf Deutsch und Französisch literarische Stadtrundgänge in Marseille an. Für eine 2-stündige Promenade durch die Marseiller Innenstadt kann man zwischen fünf Themen wählen: „Marseille zur Zeit der französischen Romantik“, „Die Stadt der Exilanten während des Zweiten Weltkriegs“, „Auf den Spuren des Philosophen Walter Benjamin“, „Auf den Spuren von Blaise Cendrars und Antonin Artaud“ und „Marseille – Krimistadt“

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