cap anamur, seerecht, illegale einschleusung etc.: Auf schwankendem Boden
Schiffbrüchigen muss, Flüchtlingen darf nicht geholfen werden: Das stürzt Kapitäne in ein moralisches Dilemma
In der bioethischen Debatte wird, um das Tötungsverbot zu relativieren, immer wieder gerne auf das Beispiel von Schiffbrüchigen verwiesen, die auf hoher See treiben, ohne dass Rettung in Sicht wäre. Haben diese Flüchtlinge das Recht, einen der anderen Flüchtlinge umzubringen, damit wenigstens ein paar überleben können?
Wie nicht nur der aktuelle Fall der „Cap Anamur“ zeigt, hält das wirkliche Leben Konstellationen bereit, die weniger blutrünstig klingen, aber moralisch genauso bedenklich sind, weil in ihnen das nackte Überleben der Flüchtlinge und der Wunsch der Staaten, ihre Flüchtlingszahlen gering zu halten, miteinander so in Konflikt geraten, dass Dritte, nämlich die Besatzungen der Schiffe, in eine schweres Dilemma gestürzt werden.
Menschen, die in Seenot geraten sind, zu retten gehört zu den Verpflichtungen jedes Schiffskapitäns. Nur wenn ein Schiff sich durch die Rettungsaktion selbst in eine gefährliche Lage brächte, darf ein erforderliches Rettungsmanöver unterbleiben. Diese Verpflichtung ist zum ersten Mal 1910 in Paragrafen gefasst worden; durch Artikel 98 der UN- Seerechtskonvention ist sie heute geltendes Völkerrecht.
Artikel 98 verpflichtet bemerkenswerterweise nicht in erster Linie den Verantwortlichen des Schiffes, sondern den Staat, unter dessen Flagge es fährt, dafür Sorge zu tragen, dass in Seenotfällen auch tatsächlich Rettungsmaßnahmen unternommen werden. Da die „Cap Anamur“ unter deutscher Flagge fährt, wäre hier Deutschland gefordert.
Allerdings ist nirgendwo im internationalen Seerecht geregelt, was nach der Rettung geschehen soll. Während die Geretteten üblicherweise im nächsten Hafen an Land gehen und dann in ihre Heimat reisen können, ist das bei Flüchtlingen, die aus Seenot geborgen wurden, gerade kein gangbarer Weg. Denn viele Staaten weigern sich, Schiffe mit Flüchtlingen an Bord einlaufen zu lassen.
Oder, wie das aktuelle Beispiel der „Cap Anamur“ zeigt, schlimmer noch: Sie lassen das Schiff einlaufen und nehmen dann den für die Rettung der Flüchtlinge Verantwortlichen wegen illegaler Einschleusung fest. Die entsprechenden, auf EU-Ebene abgestimmten Rechtsvorschriften gegen die so genannte Einschleusung sind mittlerweile so weit gefasst, dass sie sich auf diesen Fall anwenden lassen.
In Deutschland gilt der einschlägige Paragraf 92 a des Ausländergesetzes: Mit Strafe bis zu fünf Jahren wird bedroht, wer einem Ausländer hilft, ohne erforderlichen Pass in die Bundesrepublik einzureisen. Üblicherweise ist erforderlich, dass er dafür Geld erhält, was bei der „Cap Anamur“ nicht der Fall gewesen sein wird. Nun reicht es aber auch aus, dass der Täter wiederholt oder zugunsten von mehreren Ausländern handelt, was im Fall „Cap Anamur“ gegeben scheint.
Auch die Feststellung eines Vorsatzes dürfte keine Schwierigkeiten bereiten, denn die Besatzung der „Cap Anamur“ wird gewusst haben, dass die Flüchtlinge aufs Festland fliehen wollten und die erforderlichen Pässe nicht dabeihaben. Die Strafbarkeit nach deutschem Strafrecht wäre in so einem Fall allenfalls noch abzuwenden, wenn Ermittlungsbehörden oder Gerichte anerkennen würden, dass es sich um eine Art Notstand handelte, weil der Schutz des Lebens der Flüchtlinge über dem Interesse des Staates, deren Einreise zu verhindern, angesiedelt ist. Beziehungsweise weil der Kapitän sich zwischen zwei widerstreitenden Pflichten, Lebensrettung und Verbot der illegalen Einreise, entscheiden musste, die er nicht beide einhalten konnte.
Was im Fall der „Cap Anamur“ nicht zu Lasten der Flüchtlinge geht, weil Lebensrettung um fast jeden Preis ja die Mission des Schiffes ist, führt im Normalfall dazu, dass Kapitäne die Verpflichtung vernachlässigen, deren Umsetzung ihnen am meisten Ärger bringt. Da Flüchtlinge in Seenot sich nicht wehren und keine Zwangsmaßnahmen androhen können, werden sie oft genug nicht gerettet.
Diese Katastrophe, die den Tod ungezählter Menschen verursacht hat, ist vom UNHCR wiederholt thematisiert worden – zuletzt im Beschluss Nr. 97 des Exekutivkomitees über Schutzgarantien bei Aufgriffsmaßnahmen im Oktober 2003. Dabei hat der UNHCR deutlich gemacht, dass die Sicherheit von Flüchtlingen, die in Seenot geraten, nur dann wenigstens in Ansätzen gewährleistet werden kann, wenn die Schiffseigner und -kapitäne klare Garantien der Staatengemeinschaft haben, dass sie die Geretteten am nächsten besten Hafen von Bord gehen lassen können, ohne dass ihnen deswegen Sanktionen drohen.
Diese Grundsätze etwa im Rahmen der Schengener Flüchtlingspolitik anzuerkennen und verbindlich zu machen wäre eine lohnende Aufgabe für das sonst um Menschenrechte in der ganzen Welt so besorgte Deutschland. Der aktuelle Fall der „Cap Anamur“ könnte ein Anlass sein, dieses Engagement voranzutreiben. OLIVER TOLMEIN
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