: Mehr Steuern für Hartz IV
Einzelne Politiker fordern, den Spitzensteuersatz im Januar 2005 nicht wie vorgesehen zu senken. Als Beruhigungspille für Protestierer taugt das kaum
VON HEIDE OESTREICH
Die Armen werden immer ärmer, da kann man die Reichen nicht ungeschoren davonkommen lassen. Auf dieser einfachen Rechnung basierten in den letzten Wochen zahllose Politikerforderungen nach gedeckelten Managergehältern etwa oder nach höheren Steuern für Spitzenverdiener. Mit Letzterem kam am Wochenende Sigmar Gabriel um die Ecke, der SPD-Fraktionschef in Niedersachsen. Die Absenkung des Spitzensteuersatzes von 45 auf 42 Prozent, die laut Steuerreform für 2005 vorgesehen war, sollte man sich schlicht sparen, so Gabriel: „Wenn wir Veränderungen von Arbeitslosen und Kleinverdienern verlangen, können die Reichen nicht abseits stehen“, erklärte er via Bild am Sonntag.
Applaus von den Gewerkschaften, einem Ostministerpräsidenten und einzelnen Grünen: Ein bisschen soziale Ausgewogenheit suggerieren, indem man den Absturzängsten der unteren Mittelschicht die Fantasie entgegensetzt, anderen ginge es auch ans Portmonee. Es ist eine ganze Portion Populismus dabei, wenn Politiker nun Sätze à la „Alle müssen etwas beitragen“ absondern, weil tausende von Geringverdienern und Arbeitslose die Straßen mit Protestzügen füllen und ihnen Angst machen. Denen ist nämlich mit einem minimal höheren Steuersatz für Spitzenverdiener nicht geholfen, wenn dieser flugs in einem von Eichels schwarzen Haushaltslöchern verschwindet.
Aber diese Demonstrationen machen allen Bewohnern der Republik auch einen weiteren Sachverhalt sichtbar, hörbar und fühlbar, der ansonsten nur einer interessierten Minderheit auffällt: dass die Armen in Deutschland tatsächlich und buchstäblich immer ärmer werden und die Reichen das nicht schert. Dass die Zahl der Sozialhilfeempfänger sich der 3-Millionen-Marke nähert, bemerkt außer den Wohlfahrtsverbänden niemand so recht. Der Anteil der Haushalte, die unter der offiziellen Armutsgrenze liegen, also weniger als die Hälfte eines Durchschnittseinkommens haben, steigt seit mehreren Jahren kontinuierlich an. Laut Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung lag der Anteil 1997 noch bei 9,2 Prozent, 2002 waren schon 11,1 Prozent der Haushalte arm. Das reichste Viertel der Gesellschaft, so hat das Statistische Bundesamt errechnet, hatte im Westen von 1993 bis 2003 einen durchschnittlichen Vermögenszuwachs von 40.170 auf 51.230 Euro zu verzeichnen, während die Arbeitslosen und die Working Poor, das ärmste Viertel, von 4.930 auf 2.490 Euro abrutschten. Im Osten konnte das reichste Viertel seine Ersparnisse von 15.360 Euro auf 28.540 Euro fast verdoppeln, während die der Armen von 2.570 auf 2.030 sanken. 10 Prozent unserer Gesellschaft haben übrigens schon seit 1998 überhaupt keine Ersparnisse mehr.
Der Abstand wird sich mit Hartz IV rapide vergrößern. Dagegen kann man nun angehen, indem man versucht, die obere Scherenhälfte wieder dadurch ein Stückchen nach unten zu ziehen, dass man ihr mehr Steuern aufbürdet. Das aber nützt denen, die auf der unteren Scherenhälfte angesiedelt sind, erst etwas, wenn es ihnen auch konkret zugute kommt.
Und damit wären wir wieder beim Defizit der aktuellen Arbeitsmarktpolitik angelangt. Die deutsche Krankheit besteht nicht in einem zu niedrigen Spitzensteuersatz, sondern darin, dass der Arbeitsmarkt nur halb reformiert wurde: Es wird Druck auf Arbeitslose ausgeübt, aber ihnen wird im Gegenzug kein Ausweg aufgezeigt. Der erste Arbeitsmarkt kann sie nicht aufnehmen, der zweite wurde gerade abgebaut, und die Zuverdienstmöglichkeiten beim Arbeitslosengeld II sind so lächerlich, dass die meisten wohl lieber schwarzarbeiten. Andere Länder, die ebenso starken Druck auf die Arbeitslosen ausüben, lassen ihnen einen Ausweg: Dänemark hat zwar keinen Kündigungsschutz mehr, aber zahlt 4 Jahre lang Arbeitslosengeld. Großbritannien zahlt auch nur knapp 360 Euro, ähnlich wie Deutschland, subventioniert aber Niedrigverdiener mit Zuschüssen, der so genannten negativen Einkommensteuer, und bietet allen Langzeitarbeitslosen garantiert einen Job an. Für solche Maßnahmen braucht der Staat Geld. Warum sollte man es nicht unter anderem beim Spitzensteuersatz eintreiben?
„Sozialen Patriotismus“ hat Sigmar Gabriel seine fromme Forderung genannt. Man könnte sich das Pathos sparen und es ökonomische Vernunft nennen.
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