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Eine Generation ohne Abschied

Die Chilenin Emilia Mallea Flores arbeitet als Korrespondentin in Berlin. 1973 erlebte sie den Putsch in ihrer Heimat. Inspiriert durch einen Text von Wolfgang Borchert, brennt sie nun darauf, ihre Geschichte aufzuschreiben

von STEPHANIE ZEILER

Militärs durchsuchten unzählige Gebäude. Emilia Mallea Flores stand am Fenster und hielt Ausschau nach ihren Geschwistern. Aber keine Spur von ihnen. Was die Achtjährige im Arbeiterviertel des Stadtteils Maipú sah, war etwas ganz anderes: Sieben Männer lagen lang gestreckt auf der Straße, das Gesicht zu Boden und die Hände hinter dem Kopf verschränkt.

Das ist eine von vielen Geschichten in den Straßen Santiago de Chiles am 11. September 1973. 30 Jahre sind seitdem vergangen. Emilia ist Zeitzeugin des Militärputsches und der Diktatur. Sie hat alles miterlebt: Angst, Flucht, Kampf und Gewalt. Wie viele lebt auch Emilia nicht mehr in ihrem Heimatland. Sie hat ihr Weg nach Berlin geführt.

„Wir sind die Generation ohne Bindung und ohne Tiefe. Unsere Tiefe ist Abgrund. Wir sind die Generation ohne Glück, ohne Heimat und ohne Abschied. Unsere Sonne ist schmal, unsere Liebe grausam und unsere Jugend ist ohne Jugend.“

Emilia Mallea Flores’ Finger hetzen über die Tastatur ihres Notebooks. Ihr Blick ruht links auf einem dünnen Papierstapel. Gleich zuoberst liegt ein Blatt mit einer bedeutenden Prosaskizze: Wolfgang Borcherts „Generation ohne Abschied“. Die Worte des deutschen Literaten haben die Chilenin sehr bewegt – so sehr, dass sie heute aufschreibt, was sie vor dreißig Jahren erlebt hat. „Mein Vater hörte im Radio, dass La Moneda eingenommen wurde. Draußen waren viele Soldaten. Er und meine Mutter hatten große Angst, dass sie vielleicht schießen. Ich sollte vom Fenster weggehen und mich ducken, damit mich keine Kugel träfe.“

Die 38-jährige Chilenin dreht ihre kleine graue Haarspange zwischen den Fingern. Zum ersten Mal gibt sie ein Interview über ihre Vergangenheit. Normalerweise stellt sie die Fragen. Das ist ihr Job – als Korrespondentin für chilenische Medien wie Radio Cooperativa. Emilia ist ein Kind der Generation ohne Abschied.

„Und die Winde der Welt, die unsere Füße und unsere Herzen zu Zigeunern auf ihren heiß brennenden und mannhoch verschneiten Straßen gemacht haben, machten uns zu einer Generation ohne Abschied.“

Es ist die Geschichte eines Verbrechens, das Chile noch heute in Atem hält. Hauptfigur ist Augusto Pinochet. Als das chilenische Volk vor 15 Jahren die Diktatur beendete, beendete Mallea Flores ihr Pädagogikstudium. Sie stand vor einem kompletten Neuanfang. Mit ihrem Mann Rodrigo verließ sie Santiago noch im gleichen Jahr, um an einer deutschen Schule im Süden Chiles zu unterrichten. „Auch aus der Ferne spürten wir, dass die Demokratie nicht von heute auf morgen da ist“, sagt Mallea Flores. Als ihr Mann ein Jahr später ein Lehrangebot in Hamburg bekam, packte das Paar sofort seine Koffer. In Deutschland blühte die damals 26-jährige Emilia auf. „Ich war so glücklich, als ich mich an der Uni immatrikuliert habe. Hier habe ich meine Jugend entdeckt. Es war toll: Kino, Oper, Partys.“ Während der Militärdiktatur in Chile gab es das nicht. Kulturveranstaltungen waren verboten. Die chilenische Kultur war eine Streikkultur: gewalttätig und kollektiv. Es war eine Kultur, deren Nährboden das Verbrechen ist: die Diktatur.

„Und wollten wir die Abschiede leben wie ihr, die anders sind als wir und den Abschied auskosten mit allen Sekunden, dann könnte es geschehen, dass unsere Tränen zu einer Flut ansteigen würden, der keine Dämme, und wenn sie von Urvätern gebaut wären, widerstehen.“

Mallea Flores sitzt tief in einer Ecke ihrer Wohnzimmercouch. Sie stützt ihren Kopf in die rechte Hand. „Es war alles ein Echo der Ereignisse. Es gab Musikgruppen wie Callejon, (in etwa: „Sackgasse“), die nur aus der Situation entstanden. Vieles entwickelte sich geheim unter den Studenten.“ Die Journalistin versetzt sich zurück an jenen Tag im Jahr 1984, als die Polizei sie und rund 300 andere Studenten festnahm und bis in die Nacht festhielt. Es war einer dieser Tage, an dem die Regierung die Uni geschlossen hielt, weil sie Studentenunruhen befürchtete.

„Wir gingen trotzdem zur Uni. Als ich am Morgen dort ankam, waren die Türen schon aufgebrochen. Wir holten noch andere Studenten von der Straße. Plötzlich kam die Polizei. Sie sagten über Lautsprecher, dass wir uns alle vor dem Eingang hinsetzen sollen.“ Und dann beschreibt sie das Unglaubliche: Die Beamten legten Waffen und Molotowcocktails vor die Studentengruppe. Kamerateams filmten die Uni mit ihren vermeintlichen Terroristen. „Sie wollten die Uni als terroristisch abstempeln. Das war kein Leben in Freiheit.“ Aber genau dafür hat Emilia gekämpft. Sie hat demonstriert – „aber nie aggressiv. Das habe ich mich nicht getraut.“ Dieser Kampf begleitete Studenten in den 80er-Jahren Tag und Nacht. „Du kannst es nicht isolieren, du nimmst die Aggression immer mit – auch auf Partys.“

„Wir begegnen uns auf der Welt und sind Mensch mit Mensch – und dann stehlen wir uns davon, denn wir sind ohne Bindung, ohne Bleiben und ohne Abschied. Wir sind eine Generation ohne Abschied, die sich davonstiehlt wie Diebe, weil sie Angst hat vor dem Schrei ihres Herzens.“

Freudenschreie der Gegner Pinochets erfüllten die Straßen Santiagos, als am 5. Oktober 1989 der Volksentscheid fiel: Der Diktator verlor. 56 Prozent der Chilenen stimmten mit Nein. Das Plebiszit war der Beginn der transición. Mallea Flores war sprachlos – und das schon seit Tagen. Seit Wochen beherrschten die Medien Santiago, überall begegnete ihr Werbung für „el Sí“ und „el No“. Die Opposition bewegte die Massen. Die Menschen zogen durch die Straßen und sangen „La alegría ya viene“. Langsam traute Emilia ihren Augen und Ohren: „Die Freiheit kommt. Es war unglaublich. Es war wie Neujahr. Die Menschen waren so glücklich. Ich kann es heute noch nicht fassen, wie wir das schaffen konnten.“ Die Worte sprudeln nur so heraus. Die Augen blicken euphorisch, sie gestikuliert. Ihr erste Tat nach der Entscheidung: Sie fotografiert Chile im Rausch.

„Vielleicht sind wir eine Generation voller Ankunft auf einem neuen Stern, in einem neuen Leben. Voller Ankunft unter einer neuen Sonne, zu neuen Herzen.“

Kraft gab den Chilenen ein überraschendes Ereignis: der Arrest Pinochets 2000 in London. Die Akte Pinochet war doch noch nicht geschlossen. Wie der Splitter einer Granate lasteten die ungestrafte Verbrechen des Diktators auf seinen Opfern. Als sie sahen, wie die Engländer Pinochet abführten, löste das den Knoten in ihren Zungen. Die Jahre des Schweigens waren vorbei.

„Das Eingreifen der Spanier und Engländer war sehr wichtig. In Chile hat niemals eine wirkliche Vergangenheitsbewältigung stattgefunden. Zu viele Menschen, die unter Pinochet gearbeitet haben, sitzen noch heute auf ihren Posten – jetzt als Demokraten.“ Mallea Flores schiebt einen Daumennagel unter den anderen und umgekehrt. „Chiles Demokratie ist schwach. Ein Prozess dort hätte die Demokratie in Gefahr gebracht.“

In ihrer Jugend hatte Emilia keinen Platz für Träume, aber heute. Im Stillen sehnen sich viele Chilenen zurück. Emilia Mallea Flores hat solche Träume nicht. Das sagt sie. Sie könnte sich aber vorstellen, eines Tages in einer Redaktion in Chile zu arbeiten. Jetzt sei sie glücklich in Berlin – genauer gesagt in Moabit. „Hamburg ist für mich die schönste deutsche Stadt wegen seiner Häfen, aber Berlin ist eindeutig die interessanteste.“ Die Chilenin fühlte sich hier sofort zu Hause. An jeder Straßenecke begegneten der Korrespondentin neue Geschichten. „Die Stadt ist so lebendig. Das fasziniert mich.“ Ihre Liebe entfacht haben vor allem die Berliner und ihr offenes Wesen. „Neulich hat mir eine Verkäuferin spontan von ihrem Haus am Rand von Berlin erzählt. Sie war so glücklich. Das fand ich toll. In Hamburg hätte ich so etwas nie erlebt.“

Ihr Mann ist für die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit in Kap Verde. „So lange bleibe ich auf jeden Fall in Deutschland.“ Die Journalistinhat zurzeit wohl keinen Sinn für Träume. Das Schreibfieber hat sie gepackt. Sie brennt darauf, ihre Vergangenheit aufzuschreiben. Vielleicht wird ihr Werk mit den Worten Borcherts enden:

„Wir sind eine Generation ohne Abschied, aber wir wissen, dass alle Ankunft uns gehört.“

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