: Der Terror macht Schule
Die Moskauer bereiten sich auf weitere Anschläge vor. Ossetien ist für sie weit weg. Ein friedliches Ende in der besetzten Schule erwarten nur wenige
AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH
„Zwei Selbstmordattentäterinnen noch nicht gefunden“, warnte am Dienstag die Iswestija auf der Titelseite. Gestern dann erschien das Blatt mit einem Trauerflor. Eine der gesuchten Attentäterinnen hatte vor der belebten U-Bahn-Station Rischskaja mitten in Moskau eine blutige Spur hinterlassen. Mindestens elf Menschen wurden von zwei Sprengsätzen in den Tod gerissen und über fünfzig zum Teil schwer verletzt. Ein Bild des Grauens bot sich den Helfern, die nach wenigen Minuten vor Ort eintrafen. Moskaus Sicherheitsorgane hatten offensichtlich mit einem Terroranschlag gerechnet.
Die Bomben hatten eine Sprengkraft von mindestens zwei Kilo Sprengstoff und waren mit Metallteilen gespickt, die ein möglichst großes Blutbad anrichten sollten. Nach Augenzeugenberichten wollte eine jüngere Frau gegen 20 Uhr die U-Bahn-Station betreten. Als sie aber die Polizeikontrolle vor dem Eingang gewahrte, drehte sie sich weg. Sekunden später erschütterte eine Explosion den Vorplatz der Metro. Bislang ist nicht geklärt, ob die Attentäterin einen Sprengstoffgürtel trug oder ob sie die Bomben in zwei geparkten Pkws fernzündete. Die islamistischen Brigaden Islambuli haben, wie schon bei den Flugzeugabstürzen in der letzten Woche mit insgesamt 90 Toten, die Verantwortung für den Terrorakt übernommen. Bislang konnte die Authentizität des im Internet veröffentlichten Bekennerschreibens aber nicht nachgewiesen werden.
Moskau begeht jedes Jahr am 1. September feierlich den Schulbeginn. In den Vorjahren hat es sich Präsident Wladimir Putin nie nehmen lassen, eine Lehranstalt zu besuchen, sich mit Pädagogen zu unterhalten und herausgeputzten Erstklässlerinnen übers Haar zu streichen.
Statt „in Frieden zu lernen“, stand Moskau gestern unter Schock. Statt der üblichen patriotischen Schulidylle beherrschte das Geiseldrama in der Schkola Nummer 1 in Beslan die Nachrichten. Zwischen 120 und 300 Schüler, die meisten Schulanfänger, sind nach widersprüchlichen Angaben in Nordossetien von einer Gruppe Terroristen als Geiseln genommen worden. Bei dem Überfall kamen mehrere Menschen ums Leben. Unter den rund zwanzig Terroristen befinden sich auch vier Selbstmordattentäterinnen, berichteten ältere Schüler, denen die Flucht gelang. Nordossetien grenzt an die Republik Inguschetien und ist von der tschetschenischen Hauptstadt Grosny aus in zwei Autostunden zu erreichen (siehe Kasten).
Die Terroristen fordern den Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien. Sie verlangten außerdem, dass sich die Präsidenten Nordossetiens und der Nachbarrepublik Inguschetien als Verhandlungspartner zur Verfügung stellen. Dass sich der Kreml auf diese Bedingungen einlässt, ist eher unwahrscheinlich. Nach einem ähnlichen Szenario hatten tschetschenische Terroristen im Herbst 2002 das Musicaltheater Nord-Ost in Moskau besetzt. Um sich keine Blöße zu geben, hatte der Kreml jeglichen Kontakt mit den Geiselnehmern abgelehnt. Auch taktische Überlegungen, um Zeit zu gewinnen, wurden nicht angestellt. Von vornherein stand fest, dass das Theater mit Gewalt geräumt werden würde. Bei der Befreiungsaktion starben mindestens 129 Menschen an der Folgewirkung eines Betäubungsgases, das die Sicherheitskräfte einsetzten. Das Schicksal mehrerer Vermisster konnte bis heute nicht geklärt werden, und die Arbeit eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses wurde von oben unterbunden.
Beobachter in Moskau befürchten, dass der bis auf die Grundfesten erschütterte Kreml auch diesmal versuchen wird, die Geiselnahme gewaltsam zu beenden. Das entspräche nicht nur der Mentalität der FSB-Geheimdienstler, die in Russland alle Schaltzentren besetzt halten. Russlands Staatsdoktrin hat die Interessen der Macht auch immer höher bewertet als das Recht auf Unversehrtheit seiner Bürger. Gerät der Staat in Bedrängnis, tatsächlich oder auch nur eingebildet, sind alle Mittel zur Wahrung des äußeren Scheins gerechtfertigt.
Außerdem reagiert die russische Bevölkerung auf Gewaltakte im Kaukasus weniger sensibel als auf ähnliche Ereignisse mitten im russischen Kernland. Erschwerend kommt hinzu, dass die wenigen unabhängigen Medien in den kaukasischen Republiken kaum an Informationen herankommen. Denn die politisch Verantwortlichen in dieser Region sind hörige Befehlsempfänger des Kreml. Inguschetiens Präsident, der Geheimdienstler Murat Sjiasikow, gelangte nur durch Manipulationen des Kreml vor zwei Jahren auf den Posten. Die Gemengelage lässt also eher eine blutige Lösung des Konflikts erwarten.
Ein kreidebleicher Präsident Putin kehrte gestern von seinem Schwarzmeer-Urlaub in Sotschi zurück. Die Medien, die ihm sonst auf dem Fuße folgen, blendeten den Präsidenten bei der Ankunft in Moskau nur für eine Sekunden ein. Die Nation sollte zumindest erfahren, dass es ihn noch gibt. Zuvor hatte der Kremlchef erklärt, mit den Terrorakten in Moskau würden die Separatisten auf die verbesserte Lage in Tschetschenien reagieren. Das muss jeder Tschetschene, auch der, der zu Moskau hält, als Verhöhnung empfinden. Erst am Wochenende hatte der Kreml in Scheinwahlen in Grosny einen neuen Präsidenten installieren lassen.
Unterdessen wartet die Hauptstadt erstarrt auf ein neues Blutbad. Die Serie der Attentate hat eine Gruppe von vier Frauen verübt. Die beiden Tschetscheninnen, die für die Flugzeuganschläge verantwortlich gemacht werden, waren mit zwei anderen Frauen am 22. August in Tschetschenien aufgebrochen. Sie lebten und arbeiteten in Grosny und sagten Bekannten, sie wollten nach Aserbaidschan fahren, wo sie in Baku regelmäßig Kinderkleidung für den Markt einkauften. In Dagestan sollen sie dann in einen Zug nach Moskau gestiegen sein. Nach Angaben des FSB verübte eine Rosa Nagajewa den Anschlag an der Metrostation. Ihre Schwester Amanat wird verdächtigt, letzte Woche die TU-134 in die Luft gesprengt zu haben. Jetzt fahndet der FSB nach der vierten Frau, Mariam Taburowa, der letzten potenziellen Selbstmordattentäterin des tödlichen Quartetts.
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