: Blond? Doof? Häschen? Mutti?
Was will Dagmar Enkelmann?
VON NADJA KLINGER
Neulich war Elternversammlung in der Schule. Dagmar Enkelmann trug ein Kleid. Oder ein Kostüm, einen Pullover, jedenfalls etwas Knallrotes. Wie auf den Plakaten. Farbe bekennen ist das, was sie macht. Man kann sich drauf verlassen. Doch das Leben ist kein Kartenspiel. Was bedeutet es, wenn eine Frau rot ist? Hat sie noch mehr auf der Hand als nur Farbe? Das Leben hält sich nicht an die Regeln. Und es gibt keinen Trumpf. Auf der Versammlung ging es darum, dass nicht genügend Lehrbücher zur Verfügung standen. Nicht für jeden Schüler eins.
Es wurde laut und die Eltern fuchtelten durcheinander. Zwar saß Dagmar Enkelmann still und schwieg, aber in ihr war schon der Motor angesprungen. Er brachte die Gedanken in Schwung und produzierte eine flammende Rede.
Darüber, dass die Regierung Brandenburgs im Jahr so wenig Geld für Schulen ausgibt wie kein anderes Bundesland. Dass fast die Hälfte aller weiterführenden Schulen dicht gemacht haben, ein knappes Drittel der Lehrer entlassen wurde. Dass Brandenburg kaum mehr funktionierende Bildungsstrukturen hat.
Die Rede plusterte sich auf. Sie schoss wie der Inhalt eines Sektglases durch Enkelmanns Blutgefäße und färbte auch noch ihr Gesicht rot. Sie sollte öfter ein Glas Sekt trinken, hatte der Arzt ihr geraten, weil ihr Blutdruck zu niedrig sei. Aber bei einer Politikerin, hatte er hinzugefügt, wäre das wohl nicht angebracht. Es ist auch nicht angebracht, immer gleich eine politische Rede zu halten, dachte Dagmar Enkelmann. Zumal wenn sie das Problem nicht löst. Sie zupfte nervös an dem langbeinigen Plüschmaskottchen, das an ihrer Handtasche hing, und riss sich zusammen.
„Die Leute sind dankbar, wenn Politiker mal schweigen“, sagt sie später.
Enkelmann wurde 1956 in Brandenburg geboren. Sie ist auf dem Dorf groß geworden, ihre Eltern arbeiteten in der LPG. Den Hühnern auf dem Hof erklärte die kleine Dagmar die Welt, so wie man sie ihr erklärt hatte. Deshalb wollte sie ihnen aus der Bezirkszeitung der SED vorlesen. Nur konnte sie noch nicht lesen. Später, nachdem sie in die SED eingetreten war, Geschichte studiert, als Lehrerin gearbeitet und an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED ihre Dissertation verteidigt hatte, wollte sie die DDR verändern. Doch die war bereits am Untergehen. Im März 1990 wurde Dagmar Enkelmann Mitglied der Volkskammer. Im Herbst desselben Jahres kam sie mit der PDS nach Bonn und wollte den Bundestag verändern. Doch der war kein Runder Tisch, an dem geredet und geredet wurde und man am Ende gespannt sein durfte, wie die Abstimmung ausging.
Dagmar Enkelmann merkte fortan vor allem, was sie nicht wollte: vom Westen einfach übernommen werden, den Sozialismus total verdammen, Feministin sein. Sie war gegen vieles, aber nicht gegen Männer. Sie trug schwer an den Vorstellungen, die sich seit der Kindheit in ihr breit gemacht hatten. Es ging ihr um die „gemeinsame Sache“.
Vor nicht langer Zeit haben Enkelmann und ihre Genossen viel geschwiegen. Nicht weil sie sich zusammengerissen haben. Ihre Partei war aus dem Bundestag geflogen und stürzte in eine Krise. Was erwarteten die Menschen von der PDS? Lothar Bisky, der Vorsitzende aus besseren Zeiten, kam an die Parteispitze zurück. Er brachte Dagmar Enkelmann, die im Brandenburger Landtag saß, als seine Stellvertreterin mit. Es entstand die „Agenda Sozial“, der Gegenentwurf der PDS zur „Agenda 2010“. Man kann ihn im Internet lesen. Aber die Menschen heitern sich nicht mit Visionen einer kaum existierenden Partei auf. Nur eines ist für sie tröstlich: dass die PDS absolut gegen Hartz IV ist.
Im Mai haben die Brandenburger Genossen einen Laden in den Potsdamer Bahnhofspassagen bezogen und ein Wahlquartier aufgeschlagen. Sie haben Fotos ihrer Europa-Kandidaten angepinnt und die Schaufensterfront aufgezogen, um Passanten zum Eintreten zu ermutigen. Sie waren immer noch in gedämpfter Stimmung und froh über jeden, der sie nicht ignorierte.
Jungs kamen, um kostenlos zu surfen. Männer lasen in den Zeitungen, die herumlagen. Einige Leute fragten, ob man Genaueres wusste über das Arbeitslosengeld II. Also kopierten die Genossen Anträge und füllten sie mit den Besuchern aus. Jeden Tag mehr. Schließlich beklebten sie mit den 17 Formularbögen das Schaufenster. Man konnte kaum an Hartz IV vorbeischauen, um zu sehen, was bei der PDS los war.
Und die bekam einen Schreck. Mit 30,9 Prozent erhielt sie bei der Europawahl die meisten Stimmen im Bundesland. Seitdem ist die Partei wieder da. Und Dagmar Enkelmann an der Reihe – als Spitzenkandidatin für die Landtagswahl am 19. September. Sie hat ein dünnes Buch geschrieben, in dem sie locker vom Hocker mitteilt, was sie will: den Mittelstand fördern, eine zehnklassige Grundschule, naturnahe Lebensmittelproduktion unterstützen. Sie will EU-Gelder und die Solidarität der alten Bundesländer.
Ihr Buch heißt „Mein Brandenburg“. Vom Umschlag strahlt ihr breites Lachen. Enkelmann will mit öffentlichem Geld Arbeit finanzieren, für die es gesellschaftlichen Bedarf gibt, die sich aber trotzdem nie rechnet. „Ich weiß, dass der Kapitalismus mit dieser Logik nichts anfangen kann“, sagt sie. Richtig Farbe bekennen kann sie nur, indem sie die Realitäten ignoriert: „Aber sollen wir uns nach dem Kapitalismus richten oder der sich nach uns?“
Ende Juni hat sie im Landtag eine energische Rede gegen Hartz IV gehalten. Dafür wurde sie von den Abgeordneten der schwarz-roten Regierungskoalition beschimpft. Sie solle keine Panik machen und die Menschen nicht für dumm verkaufen! Einen Monat später formierten sich die ersten Montagsdemonstrationen. Eine Umfrage bei Brandenburger Wählern sah die PDS als stärkste Partei. Im Wahlquartier nannte man die Spitzenkandidatin plötzlich Ministerpräsidentin.
Man hatte einen Abreißkalender aufgehängt. „Noch 46 Tage bis zur Erlösung“, stand auf dem obersten Blatt. Es war Schwung in den Laden gekommen. Ein bisschen viel Schwung. Die Genossen drohten sich besinnungslos zu überschlagen. Niemand fragte: Wie sieht es in einer „stärksten Partei“ eigentlich aus? Tragen Ministerpräsidentinnen Rot? Spielen sie an langbeinigen Plüschtieren, um den Mund zu halten? Von irgendwoher aus der Parteispitze sickerte die Nachricht durch, dass es Zweifel daran gäbe, ob Enkelmann das Zeug zur großen Politik habe. Es sei „sexistisch und antifeministisch“, die Frau so anzugreifen, sagte Lothar Bisky daraufhin.
„Ich weiß auch nicht, warum er solche Worte verwendet hat“, sagt die. Er muss sehr wütend gewesen sein, der neue alte Vorsitzende. Vielleicht, weil er plötzlich auch sehr ratlos war.
Unerschrocken hat Dagmar Enkelmann vieles angefangen, was sich nicht so einfach wieder beenden ließ. Sie ist Mutter von drei Kindern geworden. Acht Jahre hat sie im Bundestag gesessen. Seit sechs Jahren macht sie in Bernau, wo sie lebt, aktiv Kommunalpolitik. Sie sagt: „Ich bin kein heuriges Häschen.“
Sie sehe ja gut aus, hat man ihr einst in Bonn zugerufen, aber sie rede Quatsch. Derartige Angriffe hat sie eingesteckt, anstatt abzuwehren. Und wenn einer der Zwischenrufer später in der Kantine ihre Nähe suchte, hat sie auch noch gefragt: „Warum haben Sie mich vorhin beschimpft?“
Liebe Frau Enkelmann, hat man ihr geantwortet, das war doch nur fürs Protokoll.
Die Ministerpräsidentin-Frage
Wenn sie derzeit mit der Kaffeekanne und einer Keksdose, Campingstuhl und Klapptisch durchs Brandenburger Land zieht und unterm blauen Himmel mit den Leuten redet, glauben die, sie hadere immer noch mit den zuweilen garstigen politischen Gepflogenheiten, mit großen Auftritten und scharfen Worten. In Wahrheit ist ihr wohl nur ein wenig bange. „Noch steht die Frage, ob ich Ministerpräsidentin werde, ja nicht“, sagt sie. Die anderen Parteien wollen ungern mit der PDS. Erst recht nicht, wenn die Genossen die meisten Prozente landen.
Enkelmann lebt mit einem Meteorologen zusammen. Wenn sich ihrem Haus ein Gewitter nähert, sieht der nach oben, lauscht und zählt. Dann nimmt er ihre Hand und sagt: „Daggi, das ist ganz weit weg.“
Scheinbar hofft sie, dass die anderen Parteien Wort halten. Unterm Himmel am Campingtisch sagt sie nicht einmal, dass Hartz IV weg muss, so wie es auf PDS-Wahlplakaten steht. Sie sammelt Unterschriften dafür, dass das Gesetz im Bundesrat noch einmal geöffnet und korrigiert wird. Sie will mehr Geld für die Arbeitslosen, gleiches Geld für Ost und West, und dass nicht Arbeit versprochen wird, wo es keine gibt.
Mitunter entfernt sie sich ganz weit von der Ministerpräsidentin. Dann sitzt sie mit „Mein Brandenburg“ in einer Buchhandlung und wartet auf Stille. Aber das Publikum will mit ihr reden. Über Politik.
Sie sagt dann: „Ach, ich würde lieber ein Stückchen lesen.“
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