piwik no script img

Märchen vom Ruhm

Der Musiksender MTV hat sich längst vom Buchstaben M in seinem Logo verabschiedet. Aus dem visuellen Radio wird ein „richtiger Fernsehsender“

von TOBIAS MOORSTEDT

Etwas später am Abend, wenn die Sonne verschwunden ist und die Menschen vor dem Fernseher sitzen, wird der Musiksender MTV zu einem Märchenkanal. Rührende Geschichten werden da erzählt, von ganz normalen Jungs und Mädchen, die eines Tages den Alltag hinter sich lassen und in den Himmel aufsteigen, von wo sie dann leuchten als Sterne. „The Superior Life of Britney Spears“ heißt zum Beispiel eine dieser modernen „Aschenputtel“-Adaptionen. Sie handelt vom Leben einer 21-Jährigen aus Anaheim, Kalifornien; und dann hört man, was alles möglich ist in dieser Welt, wenn die Kreditkarte doch nur die richtige Farbe hat.

Die Märchen ersetzen die Musik. „The Superior Life of Britney Spears“ ist nur ein Beispiel für eine neue Form von Programmformaten, die auf MTV mittlerweile einen Großteil der Sendezeit einnehmen. Nicht mehr die Künstler stehen im Mittelpunkt, sondern das Leben, das sie angeblich führen.

In der MTV-Show „Cribs“ führen die Stars eine Filmcrew über ihr Anwesen. In der häufig ausgestrahlten Sendung „How To Live Like a Popstar“ verraten Insider wie Castingagenten, Make-up- Künstler, Friseure und Journalisten Pseudogeheimnisse über den Lebenswandel der Stars. Die Show tarnt sich als Gebrauchsanweisung, ist aber eine kühle Auflistung der Genüsse, die das Showgeschäft als modernes Elysium so auf Lager hat. Es ist der Traum aller Kinder, der Wunschzettel ohne Grenzen: Blumen, einen Entsafter, ein Kilo Auberginen, Champagner, Sauna, Whirlpool, Masseur oder einen Lehnstuhl für die Frau Mama – die Vorstellungen vom Himmel sind eben unterschiedlich.

„Warum haben Popstars mehr Spaß am Leben?“, stellte MTV einmal die Forschungsfrage der Lifestyleformate und lieferte die Antwort zehn Sekunden später: „Es gibt keinen Job, in dem man so gut bezahlt wird.“

„You get anything you want“, „You name it, you have it“ – so lauten die Parolen der Sendung. Privatflugzeug, Villa, Suite, Club, Nobelrestaurant, Juwelen.

In dieser Welt ist alles käuflich, alles möglich deshalb auch. Bei „How To Live Like a Popstar“ heißt es einmal: „Once you make it, you get everything you want.“ Alles. Es gibt keine Grenzen mehr. Nur der Superstar ist wirklich frei. Schließlich hat alles seinen Preis. 200.000 für Ushers Klunker; zwei Millionen für P. Diddys Geburtstagsparty; das Haus von Christina Aguilera kostet drei Millionen Dollar. Bei jedem Punkt dieser Auflistung ertönt eine Registrierkasse – der wahre Beat des Spätkapitalismus.

Für Musik ist da wenig Platz. Fast scheint es, als behalte MTV den Buchstaben M nur aus Gründen der Nostalgie und Markenkontinuität im Logo. MTV hat den Popstar von der Musik befreit, der rote Teppich vor dem Konzerthaus ist zum mythischen Ort geworden, die Erfolgsinsignien sind wichtiger als ein guter Song. Die Verpflichtung von Sean Combs für die zweite Auflage der MTV-Castingshow „The Making of a HipHop Band“ erscheint als programmatischer Akt. Der Großmeister des abgehobenen Lebensstils übernimmt die Rolle des Lehrers. Drei Jungs, drei Mädchen soll er nach seinem Bilde zu Superstars formen. An der Popstarschule ist das Fach Lifestyle wichtiger als die Musik. Schließlich macht auch der Herr Professor mit Partys und Sozialskandalen mehr Schlagzeilen als mit seiner neuen Single.

Wenn Sean Combs abends ausgeht, dann hat er sechs Leibwächter und zwanzig Mädchen dabei, den Hofstaat des modernen Fürsten. Seinen 33. Geburtstag feierte er mit der „größten Party aller Zeiten“ im königlichen Palast von Marrakesch. Der US-Komiker Chris Rock fragte bei den „MTV Video Awards 2003“ in New York: „Wer könnte den Jugendlichen besser beibringen, was richtig und falsch ist, als Puff Daddy?“ – Niemand natürlich.

„Let everyone know that you made it“, heißt es einmal bei „How To Live Like a Popstar“. Sean Combs ist die Personifizierung dieses Mottos: Er ist der Größte. Er kann es beweisen, er hat die Quittung aufgehoben. Die Umrechnung des Erfolgs in Geldbeträge unternimmt auch der amerikanische Fernsehsender E! in seiner Serie „It Is Good To Be“. Dabei wird das Leben von Prominenten wie Will Smith, Ben Affleck oder Bruce Willis vorgestellt – in Zahlen. Der Empirismus ist bahnbrechend.

Im ersten Teil der Sendung berechnet die Redaktion den Verlauf der Geldakkumulation der betreffenden Person, Schritt für Schritt, vom ersten Talentwettbewerb bis zum letzten Filmdeal. Die Kurve geht meist steil nach oben. Im zweiten Teil der Sendung reden die Rechercheure dann mit Angestellten, Modedesignern, Hautärzten und Restaurantmanagern, um herauszufinden, wie viel Geld die Stars eigentlich im Alltag ausgeben.

Die Popstars verdienen viel und geben viel aus. Jede Folge von „It Is Good To Be“ basiert auf dieser Dramaturgie.

„Access All Areas“ heißt das entsprechende Pendant bei MTV. Zugang zu allen Bereichen – Videodreh, Shoppingtour oder der Party im Backstagebereich – wird dem Zuschauer versprochen.

Die Sendungen versprechen den Zugang zum VIP-Bereich – und fixen damit junge Menschen an, sich beispielsweise bei Unsinn wie „Deutschland sucht den Superstar“ zu bewerben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen