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komm, wir sägen uns die beine ab und sehen aus wie gregor gysi von WIGLAF DROSTE

Nichts ist so eintönig wie der Pluralismus. Als einer seiner aggressivsten Sendboten, der stellvertretende US-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz, im Irak nicht so begeistert empfangen wurde, wie er das für sich in Anspruch nimmt, bewiesen deutsche Journalisten, zu welcher Gleichförmigkeit der Pluralismus fähig ist. Am 27.10. 2003 lauteten die Aufmacherschlagzeilen der hiesigen überregionalen Tageszeitungen: „Anschlag auf Wolfowitz“ (taz); „Anschlag auf Pentagon-Vize Wolfowitz“ (Die Welt); „Wolfowitz entgeht Anschlag in Bagdad“ (FAZ); „Wolfowitz entgeht Anschlag in Irak unverletzt“ (FR) und „Wolfowitz entgeht Raketenangriff in Bagdad“ (SZ). Es war eine dezente Werbung für einen Pluralismus, der beim Radiosender Berlin-Brandenburg treffend „voll die Vielfalt“ heißt. Ein Pluralismus, wenn er erst perfekt ist, sieht gleichgeschaltet aus, aber das täuscht: Wer versteht, die feinen Untertöne und Unterschiede zu erspüren, wer zwischen den Zeilen wie im Kaffeesatz lesen kann, der begreift, dass ein richtiger Pluralismus sich als solcher gar nicht mehr zu erkennen geben muss. Der avancierte Pluralismus ist unglaublich subtil, und wer als fortgeschrittener Pluralist mithalten will, benötigt ein zartes Sensorium.

Doch wird der Pluralismus auch jenen geschenkt, denen er nichts zu geben vermag. Großzügig drücken die Klinkenputzer der pluralistischen Religion jedem ihre Ware ans Herz, über den Erdball eilen sie mit einem Eifer, als hätten sie bei Luther gelernt. Und noch der verstockteste Antipluralist wird die Schönheit und Pracht des Pluralismus erkennen und zu ihm konvertieren, wenn er die Schlagzeilen der deutschen Qualitätszeitungen vom 27. 10. zu sehen bekommt: Das ist es, wofür es sich zu leben, zu kämpfen und zu sterben lohnt, weltweit.

Diese Botschaft hat auch die PDS gefressen, die in Chemnitz bekennermutig dem Einheitspluralismus beitrat. Doch obwohl die PDS längst so uniform ist wie alle anderen Kinder, darf sie nicht richtig mitmachen; sie steht unter Kommunismusverdacht. Das ist eine gemeine Verleumdung; die PDS ist ungefähr so kommunistisch wie die FDP. Aber es muss doch einen Unterschied zwischen Gregor Gysi und Guido Westerwelle geben, quengeln in verzweifelter Hoffnung die verbliebenen sozialistischen Restposten. Doch, einen Unterschied gibt es, man kann ihn mit bloßem Auge sehen und mit dem Zollstock messen. Einen erwähnenswerten anderen Unterschied allerdings gibt es nicht.

Gysi, der auf Augenhöhe zuletzt mit seinem Türknauf verhandelte, hält seine Rücktritte aus politischen Ämtern nicht aus. Er zählt zu denen, die politisch in der Nähe jeder Fernsehkamera stehen. Wenn die aber wegbleibt und er nicht mehr Primadonna spielen kann, ist er gar nicht mehr da. So zwergelte Gysi auch in Chemnitz aufgeregt herum und erklärte verschüchterten Sozialdemokraten, was Politikfähigkeit bedeutet: in Interviews über seine Krawattensammlung plaudern. Nur wer sich im Pluralismus aufgelöst hat, kann den Pluralismus verändern, sagt, wie jeder Pluralist, auch Gregor Gysi. Warum wurde seine esoterische Kasperlevorstellung nicht mit Zwergenwerfen geahndet? Weil PDS pluralistische deutsche Spießer heißt?

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