: Der Furor der Reformen
CDU und CSU waren immer dann erfolgreich, wenn sie ihre wirtschaftliche Kompetenz mit einem Blick fürs Soziale verbunden haben. Diese Symbiose droht sich nun aufzulösen
Die Sprache ist hart und verletzend. Die Sozialdemokratisierung der CDU müsse rückgängig gemacht werden, dekretiert Friedrich Merz. „Das ist nicht mehr meine CDU“, antwortet Norbert Blüm. Nicht nur die Sozialdemokraten ringen um den demokratischen Sozialismus, auch in der CDU wird über die Seele der Partei gestritten, auch dort gibt es das „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ eines Horst Seehofer. Es gehört zu den gängigen Fehlurteilen, bürgerliche Parteien, da bloße Interessenverbände ohne überschießendes utopisches Potenzial, täten sich leicht mit der Aufgabe von Herzenswünschen, da sie eben kein Herz hätten. Doch das war nie richtig. Als Robert Peel im England der 40er-Jahre des 19. Jahrhunderts vom Schutzzoll zum Freihandel überging, sprengte er die traditionsreichen Torys in die Luft, und das nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell. Erst als Disraeli mit der romantischen Verklärung der Monarchie und dem Empire der Partei einen neuen Glauben gab, gelangte sie wieder an die Macht. Es ist deshalb auch kein Zufall, das Margaret Thatcher zwar England reformiert hat, aber zugleich ihre Partei in die Bedeutungslosigkeit versenkte. Denn zum Glaubenskern der Torys gehörte die patriarchalisch-patrizische Fürsorge, die sie hasste und der Partei austreiben wollte. Doch da der reine Markt für die Mehrheit keinen Glaubensartikel darstellt und weder Monarchie noch Empire neue Kräfte freisetzen konnten, dümpelt die einstige natürliche Regierungspartei Englands heute im Ghetto der bestenfalls zweiten Wahl zusammen mit den Liberalen dahin.
In dieser Gefahr steht auch die CDU. Noch richten sich Zorn und Ablehnung allein gegen die große Regierungspartei, doch das würde sich schnell ändern, wären Merkel oder Stoiber für die Einschnitte und Kürzungen verantwortlich. CDU und CSU sind – zusammen mit der Österreichischen Volkspartei – die beiden christlichen Parteien Europas, denen der Absturz bisher erspart geblieben ist. Und das hat nicht zuletzt mit ihrer ausgeprägten sozialen Kompetenz und einem Zug ins Kollektivistische zu tun, den die Reformer heute beklagen. Nachdem der Aufstieg von Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus die liberale Bürgerwelt von 1914 weitgehend zerstört hatte, waren die christlichen Parteien in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg der Versuch, kapitalistisches Wirtschaften mit sozialem Ausgleich zu verbinden, also dem übrig gebliebenen Bürgertum neue Verbündete in der konfessionell gebundenen Arbeiterschaft zuzuführen. Was Bismarck mit seiner Sozialgesetzgebung einst begonnen hatte, setzten Adenauer, Erhard, de Gasperi, Schumann und andere fort, die Einbindung möglichst vieler in eine effiziente kapitalistische Wirtschaft, um diese sicher gegen Übernahmeversuche von links wie rechts zu machen.
Es ist schon richtig, wenn Friedrich Merz von der Sozialdemokratisierung der Union spricht, nur war sie gewollt und kein Abirren vom richtigen Weg. Denn der richtige Weg der Selbstverantwortung und Eigeninitiative konnte immer nur die Starken oder Besitzenden anziehen, für die Schwachen musste gesorgt werden, in England vor einem aristokratischen Hintergrund, in Deutschland aus christlicher Überzeugung. Die es konnten, sollten unternehmen und verdienen, die es weniger gut konnten, sollten davon profitieren in abgestufter Solidarität. Nun kann und muss man darüber streiten, wie dieses System einer schrumpfenden Wirtschaft und einer auf dem Kopf stehenden Alterspyramide anzupassen ist. Gefährlich wird es für die Union, wenn sie sich dieses Erbes aus katholischer Soziallehre und evangelischer Sozialethik entäußert und zur liberalen Wirtschaftspartei à la FDP mutiert. Denn ihre größten Erfolge hatte sie immer dann, wenn die Wähler in der Überzeugung bestärkt wurden, dass die CDU besser mit der Wirtschaft umgehen könne und dennoch das Soziale nicht zu kurz komme. Der Zusammenbruch des Kommunismus hat den Besitzenden die Angst vor der kollektivistischen Zwangsalternative genommen, sie hat aber andererseits auch die Wähler frei gemacht, Wohlstandseinbußen gnadenlos an der Wahlurne zu bestrafen.
Die von den Meinungsforschern für die SPD ermittelten 22 Prozent sind ein Vorgeschmack davon. Insofern ist es schon richtig, wenn Rot-Grün hofft, dass das Herzog-Papier die Wähler wieder zum kleineren Übel des geringeren Sozialabbaus zurücktreibt. Die Torys haben sich unter Margaret Thatcher das Soziale und Kollektive, den so genannten „Butskellismus“ aus dem Herzen gerissen, zugunsten der individuellen Bereicherung, und sind dafür von den Wählern bestraft worden. Das Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, die Achse im Furor des Reformierens nicht zu verschieben und das Herz der Partei nicht zu zerstören. Die CDU war eben nie nur Interessenpartei, sondern ein Klassen- und Interessenkompromiss aus politischer Notwendigkeit und moralischer Überzeugung, ein Amalgam aus konservativen, liberalen und sozialen Elementen. Und eben dagegen verstößt die Kopfpauschale, die allein Wachstum und Wirtschaft, aber nicht mehr die Geschichte der Partei im Blick hat. Man kann es drehen und wenden, wie man will, mit ihr beginnt eine andere Republik, in der sich das typisch Christlich-Demokratische, eben jene Symbiose aus Erhard und Blüm, aus freiheitlicher Marktwirtschaft und katholischer Soziallehre, auflöst. Bismarck hat in die sich entwickelnde bürgerliche Gesellschaft der Wirtschaftssubjekte mit seiner Sozialversicherung etwas Gemeinschaft aus der ihm vertrauten aristokratisch-patriarchalischen Welt gebracht, also etwas Kuschelwärme, wie Friedrich Merz formulieren würde, oder Herz-Jesu-Sozialismus, wie es in den 60ern und 70ern hieß. Die Kopfpauschale zerstört mit ihrer kalten Rationalität ein weiteres Stück Gemeinschaftsgefühl zugunsten einer abstrakten, steuerfinanzierten sozialen Umlage. Die Not mag auch auf diese Weise draußen bleiben, das Gefühl des Aufeinanderangewiesenseins aber eben auch. Sie erfüllt zwar Angela Merkels Forderung, dass wir mehr für Deutschland tun müssen, aber sie wird dem Credo der CDU, dass wir mehr füreinander tun müssen, kaum gerecht. Sie verschiebt die politische Zentralachse der Union ins Individualistisch-Liberale. Das kann man wollen, man sollte sich nur über die Folgen im Klaren sein.
Doch das würde ein Eindringen in die filigranen Seelenwurzeln der rheinischen CDU notwendig machen, für die ihre Vorsitzende weder Geduld noch die lebensweltlichen Voraussetzungen mitbringt. Wie die Krämerstochter Margaret Thatcher nichts mit den Patriziern in ihrer Partei anfangen konnte, so kann die individualistische Protestantin Angela Merkel nichts mit dem katholisch-kollektivistischen Erbe der CDU. Doch nur dieses Erbe sichert der Partei die strukturelle Mehrheitsfähigkeit in einer sich wandelnden Welt. Schließlich war die CDU nie die Partei der Freiheit, sondern immer die Partei des Kompromisses zwischen Freiheit und lebensweltlichem Konservativismus. ALEXANDER GAULAND
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