: Weltgeist nach Noten, Einzelgeist in Nöten
Die eigene Existenz an politische Großereignisse zu koppeln, das wurde im 18. Jahrhundert erfunden. Johann Heinrich Merck hatte den Preis dafür zu zahlen – er starb für ein Abstraktum: für hehre Ziele und Ideale. Aus Anlass des Merck-Preises 2003 Anmerkungen zum politisch motivierten Selbstmord
von KLAUS THEWELEIT
Johann Heinrich Merck war Literaturkritiker und Essayist, 1771/2 Redakteur der Frankfurter Gelehrten Anzeigen, aber auch Naturforscher und Kunstkritiker, ein Freund und Weggefährte Wielands, Herders, Schleiermachers und ganz besonders Goethes – Goethes, der in seinem Tagebuch den Freund „Mercken“ einmal aus allen Menschen hervorhob mit der Formulierung, dass „er der einzige Mensch ist, der ganz erkennt, was ich tu und wie ichs tu“. Das höchste Lob also. Das war am 13. Juli 1779, Goethe war 30 Jahre alt, auf dem Gipfel seines Werther-Ruhms; Merck war 38, und neben seinem literarischen Wirken angestellter Kriegskassenverwalter am darmstädtisch-hessischen Hof.
Später im Leben, auf Grund persönlicher Querelen und wie immer auch aus unerfindlichen Gründen, hat Goethe Merck einen Mephisto genannt und ihn schließlich sogar in „Dichtung und Wahrheit“ zu dem Mephisto promoviert. Informiert man sich darüber genauer in der ausführlichen Merck-Biografie von Walter Schübler, erfährt man, dass es eine recht unverdiente Zuschreibung ist, die Goethe dem einst geliebten Jugendfreund damit angehängt hat; aber eine sehr haltbare.
Aber nicht nur der Namensgeber des Preises, auch die Reihe der früheren Preisträger hat mich beschäftigt. Peter Rühmkorf fand sich in einer Zwickmühle: Warum bekam er, der fanatische Lyriker, den Merck-Preis für literarische Kritik und Essay? Zwar war er durchaus Kritiker und Essayist, jedoch nur in einem kleineren Teil, dem allerdings broterwerbenden Teil seiner Person. In einem heftigen Tanz der Worte, der in seiner Schwindelbewegung klarstellte, dass es die Poesie sei, „die sich trotz allem für die eigentliche und wesentliche Produktivkraft hält“, löste Rühmkorf das Dilemma, indem er um die Erlaubnis bat, das Preisgeld zu Hause bei sich in Hamburg weiterzugeben bzw. umzuwidmen an den daheim gebliebenen Poeten, dass der nicht weiter verwildere zum verbiesterten Desperado. Eine schöne, eine schön verrückte Rede.
Friedrich Dieckmann bemerkt in seiner Dankrede im Jahr 2001, dass nur wenige Preisträger sich zur Person Johann Heinrich Mercks geäußert haben – aber alle Büchnerpreisträger zu Büchner. Dem wollte er abhelfen. Er hat dies so akribisch und präzise getan, dass auf der Biografie-Ebene wenig hinzuzufügen bleibt. Ein neues Licht hat Dieckmann dabei auf den Suizid von Johann Heinrich Merck geworfen; ein Licht, von dem mir scheint, dass man seinen Kegel noch etwas anders einstellen kann, als Dieckmann dies tat.
Worum geht es? Um Mercks letzte Lebensjahre. Er schien von verschiedenen Lebensunglücken zerstört; vier der sieben Kinder, die seine Frau Louise geboren hatte, waren früh gestorben; die meisten Freundschaften zerbrochen. Die Gründung einer Baumwollspinnfabrik verlief desaströs. Seine Arbeit als Kriegskassenverwalter des Fürsten war trist. Und er war krank. Sein allgemeiner Zustand wird von den Zeitgenossen als der einer „Melancholie“ beschrieben; das ist das damals übliche Wort für schwere Depression, wenn nicht Schlimmeres.
Im Januar 1791 schickte der Darmstädter Landgraf Ludwig X. seinen maladen Kriegskassenverwalter nach Paris mit der Aufgabe, die Chancen der Gegenrevolution zu erkunden. Merck findet nicht nur keine Anzeichen für eine Contre-Revolution in Paris; er wird vielmehr zum feurigen Anhänger der Revolution. Er hat das vorher schon geahnt, wenn er nach Hause schreibt, Paris überträfe alle seine Erwartungen, an Gesinnung, an Größe der Bilder, an „Durst nach Wahrheit, Tugend, Menschengefühl“. An Wieland schreibt er, „daß die Constituzion steht und unwandelbar stehen wird“. Jacques-Louis David, der Maler der Revolution, führt Merck – der in Dresden anderthalb Jahre an der Kunstakademie studiert hat und auch ein versierter Kunstkritiker ist – in den Jakobinerclub ein. David schreibt an Merck: „Ich bin beglückt, daß Sie, aus Liebe zur Freiheit, oder besser gesagt, aus Liebe zur Menschheit, die Grundsätze, zu denen sich Jakobiner bekennen, verbreiten werden, und zwar in Ihrer Heimat.“
Zurück in dieser Heimat findet Merck mehr als nur Anzeichen für eine Gegenrevolution. Am Darmstädter Hof versammeln sich im Juni 1791 die Häupter der französischen Adelsemigration, unter ihnen der Graf von Artois, der Bruder Ludwigs XVI. Unterstützt von Leopold, dem Kaiser von Österreich, nimmt der Aufmarsch der Contre-Revolution Gestalt an. Merck steht es bevor, binnen kurzem gegen seine Jakobinergenossen nach Frankreich einzumarschieren, als Kriegskassenverwalter seines Fürsten. Er erschießt sich am Ende dieses Monats.
Hier setzt Dieckmann seinen Akzent. Näher liegend als der Suizid aus Depression, Krankheit, drohender Armut, die die Biografen geltend machen, sei „die Annahme, dass der Konflikt zwischen Jakobinerverpflichtung und Kriegskassenverwaltung sich ihm in sich zuspitzender Lage als unlösbar darstellte“. Das scheint plausibel – besonders wenn man berücksichtigt, dass Mercks allgemeiner Zustand sich durch seinen Parisaufenthalt sehr gebessert hatte. Mit der Begeisterung für die Revolution kam der Lebensmut zurück. Auch Mercks finanzielle Lage hatte sich 1791 entspannt. Durch günstige Verkäufe konnte er ein Darlehen zurückzahlen, das er von Carl August, dem Herzog von Sachsen-Weimar (von Goethes Herzog also) erhalten hatte im Moment der höchsten Not.
In der Tat eine grausame Klemme: abhängiger Angestellter eines Feudalherrn zu sein; mit Fürstenkrediten eigene finanzielle Pleiten überbrücken zu müssen; aber der Französischen Revolution anzuhängen und gezwungen zu sein, kriegerisch gegen die Republik vorzugehen: Merck am Schreibtisch mit dem Bild vor Augen, wie er in Paris seinem geliebten Maler David gegenübertritt – als Zahlmeister von dessen Erschießungskommando. Eine Horrorszene. Eh ihm diese Vorstellung das Herz bricht, schießt er es sich lieber weg, 50 Jahre alt.
Nehmen wir an, dies sei, wie Dieckmann meint, das auslösende Moment gewesen für Mercks Schuss – dann wäre dies ein politischer Tod einer Sorte, die es eben erst zu geben begann in der europäischen politischen Welt. „Mercks Preis“ hat Dieckmann seinen Text überschrieben. Nicht Preis, den jemand bekommt, sondern Preis, den jemand zu zahlen hat. Es wäre der Preis für jene Koppelung, die in eben diesem historischen Moment Ende des 18. Jahrhunderts in aufklärerischen Köpfen erfunden wird: der Preis für die Koppelung der eigenen individuellen Existenz mit den politischen Großereignissen der Zeit: zu sterben also für ein Abstraktum; für die Ideen und Ziele der Französischen Revolution, so wie im 20. Jahrhundert so viele gestorben sind für die Ideen und Ziele der kommunistischen Revolutionen; und niemand kann sagen bis heute, ob das nicht alles ein bisschen sinnlos war.
Merck hätte, wie andere Zeitgenossen mit einem kühleren Kopf, ja abwarten können und darauf rechnen, dass der Graf von Artois nicht sehr weit kommen würde mit seinen royalistischen Truppen in Frankreich. Genau das geschah. Bis 1796 ziehen immer wieder royalistische Truppen gegen die Revolution ins Feld; Paris erreichen sie nie. Und noch ein, zwei Jahre weiter hätte Merck dann etwas ganz anderes erlebt; nämlich wie seine ideale Französische Revolution sich selbst erledigt; sich selbst wegschwemmt im eigenen Blut. Er hätte darüber schreiben können, wie es später sein Ex-Freund Goethe macht. Goethe, der kühlere, hört ein Jahr nach Mercks Tod, mit seinem Herzog unterwegs in Frankreich gegen die Revolution, aus einem Kanonenfieber die Töne einer neuen Epoche der Weltgeschichte. Er war dabei und hat das so notiert; wenn auch erst 30 Jahre später veröffentlicht. Und widmet da den Vereinigten Staaten, die sich im 4. Jahrzehnt ihres Zustands unter einer freien Constituzion befinden, die Gedichtzeile „Amerika, du hast es besser“.
An einer anderen Krümmung des Freiheitsplans sieht der Professor Hegel in Jena den Weltgeist zu Pferde, einen postrevolutionären kleinwüchsigen Franzosen, am Fenster seiner Studierstube in Jena vorübergleiten. Hegel, ein weiteres Exemplar der neuen, sich selbst erfindenden Kaste der individuellen Weltlagen-Bedenker mit allgemeinem Geltungsanspruch, ist berührt, und notiert das so. Auch Friedrich Schiller und Ludwig van Beethoven diktieren ihre allhumane Brüder-Arie ins Notizbuch bzw. ins Gesangsbuch der weltgeschichtlichen Generalabläufe.
Der Weltgeist nach Noten und der Einzelgeist in Nöten gewöhnen sich dann daran, sich in fortlaufenden kategorischen Imperativen, immer neuen qualitativen Sprüngen, in Monsterchören und diversen weiteren unerhörten Salti mortali der Kritik und der Essayistik unaufhörlich über die Grabesränder verschlingender Zeitläufe dialektisch hinwegzuretten. But John Henry’s Body Lies Modering In The Ground. Hat er sich vielleicht etwas vorschnell aus dem Spiel geschossen?
Und: verlohnt es denn das Pulver? Wegen eines revolutionären Malerfreunds in Paris? Wie ist es dem Maler David überhaupt ergangen? Jacques-Louis David, die große Kunstnummer der Großen Revolution der Grande Nation –: als Mitglied des Nationalkonvents leitet er die großen Revolutionsfeste und organisiert die staatlichen Kunstmaßnahmen. In politischen Märtyrerbildern (Jean-Paul Marat u. a.) feiert er die Helden der Revolution. „Nach dem Sturz Robbespierres wurde er angeklagt und entging knapp dem Tode“, sagt das Lexikon. Napoleon, dessen Bewunderer er wird, macht ihn zum Hofmaler; David verherrlicht die Geschichte des Kaiserreichs (Napoleon auf dem St. Bernhard, Kaiserkrönung, Verteilung der Adler). Als nach Napoleons Ende die Bourbonen auf den Königsthron nach Paris zurückkehren, muss David, der im Konvent für den Tod Ludwigs XVI. gestimmt hatte, das Land verlassen. 68-jährig emigriert er nach Brüssel. Dort verbringt er als europäisch hochverehrter Malerfürst sein letztes Jahrzehnt. Und verkauft zwei seiner Napoleonbilder tatsächlich 1819 für 100.000 Francs an die Bourbonen, die seine Malerei ebenfalls hochschätzen. Er stirbt 1825, mit 77 Jahren; den Darmstädter Jakobinerfreund Merck hat er um 34 Jahre überlebt. Ob er zuweilen an ihn gedacht hat, den idealistischen Deutschen – keine Ahnung.
Wie so vielen andern Franzosen, die „aus Liebe zur Freiheit“ und aus „Liebe zur Menschheit“ 1789 zu Aufrührern geworden waren, war es David gelungen, den revolutionären Elan der Jakobinertage auf die Verehrung des revolutionären Elans des Großen Korsen zu übertragen. Dazwischen liegt die etwas unpräzise, aber umso bedeutsamere Formel „wurde angeklagt und entging knapp dem Tode“. Wie macht man das, knapp dem Tode entgehen. Die Formulierung legt ja nahe, dass es sich um eine Aktivität handelt dabei. Manche bekommen die nicht hin.
Liegt es etwa an den Formen? Liegt es daran, dass man mit „Essay und Kritik“ einfach nicht so lange durchhält wie als hochdekorierter Hersteller großer Historiengemälde? Wer in Romanen denkt oder in vergleichbaren Großentwürfen der Menschengesellschaft – lebt einfach länger? Wie die Reihe der Goethes und Thomas Manns zu beweisen scheint gegenüber der Reihe der Büchner, Mercks oder auch Walter Benjamins. Wird man nicht recht alt, wenn man nicht auch etwas Roman-Talent hat im Zeilenfall des eigenen Lebens? Fragen!
Auf jeden Fall zu lernen gewesen wäre hier, aus den Ereignissen der Jahre 1791 bis 1804: Man soll sich nie aus politischen Gründen erschießen, und auf keinen Fall zu schnell. Die Berechnungsparameter werden alle naslang geändert; sowohl für das, was als „Revolution“ jeweils gilt, was als „Freiheit“ gilt und was nicht, wie auch die Parameter geändert werden für die Zins- und Rentenberechnung oder die anderen Dinge des Lebens. Goethe bemerkt im Alter von 75 Jahren altklug zu Eckermann, „die menschlichen Dinge haben alle 50 Jahre eine andere Gestalt“. Dass immer noch eine Wendung kommt, in der alles umgeschrieben wird oder werden kann: es wäre auch Mercks Erfahrung geworden, hätte er durchgehalten bis zum Sechzigsten.
Ob er es hätte wissen wollen? Das weiß ich nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen