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Sechs Stockwerke Leben

Die Leute, die im Kreuzberger Wohnprojekt für Menschen mit Aids leben, haben keine großen Ziele, keine größeren Pläne mehr. Für Petra oder Frank geht es darum, wieder nach der Welt zu greifen

von WALTRAUD SCHWAB

Petra P. geht es besser. Viel besser. Nicht so wie damals, als ihr Freund sie unterm Tisch hervorzog, unter dem sie kauerte. Sie sitzt im Rollstuhl im kleinen, lichtdurchfluteten Gruppenraum in der Büroetage des Kreuzberger Wohnprojekts für Menschen mit Aids. Jeden Morgen können sich die BewohnerInnen des Hauses dort zum Kaffee treffen und mit den BetreuerInnen besprechen, was auf den Nägeln brennt: Probleme mit dem Sozialamt oder Gericht, Ungelöstes mit der Familie, Fragen zum Leben und Überleben.

Eine zusammengewürfelte Schar hat sich eingefunden. Neben Petra P. sitzt Frank B. Ganz offen erzählt er von seinen Schmerzen in den Gelenken und von seinem Freund. Vor acht Jahren ist er gestorben. Bis zuletzt hat er ihn gepflegt. Frank ist Epileptiker, erwerbsunfähig. Nur einmal hat er vorübergehend in der Poststelle des Friedrichstadtpalastes gearbeitet. Sein Gesicht hellt sich auf beim Erzählen.

Im Wohnprojekt in der Reichenberger Straße 129 werden Aids-Kranke aufgenommen, die aufgrund ihres gesundheitlichen Zustandes nicht mehr alleine wohnen können. Vor vier Jahren wurde das Haus, das auf Initiative eines privaten Investors gebaut wurde, eröffnet. Ursprünglich bereits Anfang der 90er-Jahre als Hospiz geplant, verzögerte sich die Fertigstellung bis über die „Zeitenwende in der Aids-Arbeit hinaus“, wie Robert Kliem sagt. Er arbeitet als Sozialmakler bei ZiK, der Trägergesellschaft des Wohnprojekts. ZiK, das steht für: Zuhause im Kiez. „Seit es möglich ist, das Aids-Virus durch Medikamente in Schach zu halten, ging die Sterberate dramatisch zurück“, erläutert Kliem. Während die ZiK, die fast seit Anfang der Aids-Krise in den 80er-Jahren Betroffene betreut, 1995 noch 48 Menschen beim Sterben begleitete, waren es zwei Jahre später acht. Neben Petra P. und Frank B. sitzt ein Tätowierter in der Kaffeerunde. Seine Arme sind von oben bis unten gezeichnet. Bei der Fremdenlegion war er, erzählt er. Dort hat er Französisch gelernt. Mehr will er nicht sagen. Das mit dem Französischen allerdings ist für Papy K. aus dem Kongo, der sich im grünen Trainingsanzug ebenfalls einfindet, ein Segen. Wenigstens einer von 21 Bewohnern und zwei Bewohnerinnen, mit dem er sich unterhalten kann. Papy K. spricht kaum Deutsch. Vor drei Jahren ist er in Oldenburg gestrandet. Seine Vergangenheit ist sein Geheimnis. Sein Schicksal lässt sich nur in Bruchstücken fassen: Der Fremdenlegionär – Glück. Und Unglück: Gabriela – une amie, eine Freundin. Von außerhalb. Sie hat ihn beklaut, als sie ihn neulich besuchte. Auf „une amie“ besteht er trotzdem.

Das Haus in der Reichenberger Straße ist einmalig in Deutschland, entsprechend gibt es landesweite Anfragen nach Aufnahme. Hier leben die Aids-Kranken psychosozial und medizinisch betreut in ihren eigenen Einzimmer-Appartments. 73 Menschen haben bisher in der Reichenberger gewohnt. Auf jedem der sechs Stockwerke des behindertengerechten Neubaus leben vier bis fünf Leute. Mit Gemeinschaftsraum sowie Küche und Bad. Wenn sie wollen, können sie sich etagenweise als Wohngemeinschaft organisieren. Gemeinsam kochen und so. Die meisten wollen nicht.

Auch Dietmar N., der zur Kaffeerunde stößt, ist ein Eigenbrödler. Amitié, Freundschaft sucht der große Mann längst in den kleinen Dingen. Seiner neuen Musikanlage etwa. Für 300 Euro hat er sie gekauft. Die Hälfte des Geldes hat er selbst gespart, das erfüllt ihn mit beinahe kindlichem Stolz. Die andere Hälfte hat er von der Aids-Stiftung bekommen. Seit 1993 lebt der Nürnberger Metzger in Berlin. Seit 1994 weiß er, dass er positiv ist. Vor drei Jahren ist er in das Wohnprojekt gezogen. „Metzger wollte ich nicht werden“, erzählt er, aber er habe es gemacht, weil er keine andere Lehrstelle bekam. „Wir können es ja eine Woche probieren“, soll sein Lehrmeister zu ihm gesagt haben. Der Mann war vorsichtig, „weil es schon welche gab, die haben Mörder zu ihm gesagt“. Weit hergeholt aus der Vergangenheit ist diese Episode. Dabei ist es die Gegenwart, die zählt. In der fehlen Dietmar N. noch CDs. „Pink Floyd, Queen und so.“ Dass die Aids- Stiftung neben den 150 Euro für ihn ganz persönlich nun auch die gesamten Erlöse der diesjährigen Opern-Gala zum Erwerb des Hauses, in dem sich das Wohnprojekt befindet, einsetzen wird, das ist bei der Kaffeerunde eine viel zu außerweltliche Information. Hier geht es ums Ich-und-Du.

Die BewohnerInnen sollen sich in ihren Apartments selbst versorgen, solange sie das schaffen. Täglich gibt es jedoch die gemeinsame Kaffeerunde. Da also sitzen Petra P., die mal Löterin bei Bosch war, der Tätowierte, Papy K., die anderen und versuchen, wieder nach dem Leben zu greifen. „Begreifen kann man es doch nicht“, sagt Frank B. Schön sei, dass man sich hier nicht verstellen müsse, sagt er. „Fast familiär ist es.“ Manche sind Freunde geworden, wie er und Petra P. Seine Schwestern haben die beiden an Weihnachten zu sich nach Hause eingeladen. Größere Pläne, große Ziele haben die Leute, die um den Tisch sitzen, nicht.

„Für mich ist es kein Unterschied, ob einer Junkie ist oder schwul, ob einer im Knast war oder schwarz ist“, wirft José M. ein. Erst wenige Tage lebt er im Wohnprojekt. In der Kaffeerunde fühlt er sich noch fremd. Trotzdem beginnt er, von sich zu erzählen: Vier Geschwister, Heim, Erziehungsheim, „im Torf mussten wir arbeiten“. Tischler und Schlagzeuger ist er. Im „Loft“ hat er gespielt. Seine Bands hießen „The Last Cry“ und „The Final Curtain“. Der letzte Schrei, der letzte Vorhang. Dazu Drogen, dann Aids. Manchmal braucht es nur Stichworte, um sich durch ein Leben zu zappen. Jetzt ist José M. angekommen im Wohnprojekt, weil er es alleine nicht mehr schafft. „Trotzdem, es ist keine Endstation“, betont Doris Steimanis, die Projektleiterin. „Wir helfen den Bewohnern wieder auf die Beine.“ Aids stört nicht nur die Gesundheit, sondern auch den Alltag, die Psyche, das soziale Umfeld. Manche der Bewohner ziehen wieder aus, wenn sie sich gefangen haben.

Das Haus in der Reichenberger Straße musste nach der Fertigstellung seine Aufgaben den veränderten Bedingungen der Krankheit anpassen. Die sind nicht mehr so Aufsehen erregend, aber nicht weniger grausam. Gestorben wird immer noch, auch wenn die Erkrankung nun als chronisch behandelbar gilt. Die Betroffenen jedoch leiden vielfach an den Nebenwirkungen der Medikamente und sterben letzten Endes auch daran. Herz, Kreislauf, die Leber, die Niere werden angegriffen, dazu können die Medikamente Persönlichkeitsveränderungen über Depression bis hin zu Psychosen bewirken. Außerdem sind die opportunistischen Krankheiten, die sich durch das geschwächte Immunsystem leichter ausbreiten, weiterhin eine große Gefahr für die Patienten. Toxoplasmose beispielsweise oder PML – ein HIV-bedingter Abbau von Hirnzellen, der vergleichbare Symptome wie eine Altersdemenz aufweist, erläutert Kliem, der Sozialmakler. Allerdings warnt er vor Verallgemeinerungen. „Vieles spielt eine Rolle. Der Lebenswandel, der Grad der Vorbeschädigung des Körpers, Drogenproblematiken. Aber Aids-Arbeit ist Suchtarbeit, das darf nie vergessen werden.“ Außerdem würden Nebenwirkungen erst mit der verlängerten Überlebensdauer bekannt. „Fakt ist“, sagt Kliem, „je länger die Leute mit der Krankheit leben, desto größer der Betreuungsbedarf. Sie werden hinfälliger im Laufe einer langen Medikation.“

Dies bestätigt Ulrich Heide, geschäftsführender Vorstand der Aids-Stiftung, als er den Beschluss des Stiftungs-Kuratoriums vorstellt, die gesamten Einnahmen der Aids-Gala 2003 in der Deutschen Oper, etwa 400.000 Euro, für den Erwerb des Hauses in der Reichenberger Straße einzusetzen. Nur so kann die Einrichtung langfristig gesichert werden, denn der private Investor, der das Haus aufbaute, musste verkaufen.

Die Opern-Gala gehört seit 10 Jahren zu den Glamour Veranstaltungen des Winters. Kent Nagano dirigiert, Loriot moderiert, VIPs im großen Stil werden erwartet. Eine gute Karte für das Event ist für 1.100 Euro zu haben. Die ersten Preise der Tombola: Ein VW für 18.000 Euro und eine zweiwöchige Kreuzfahrt für fast genauso viel Geld. Welten trennen die Kaffeerunde in der Reichenberger, die meisten nach dem Bundessozialhilfegesetz finanziert, von den Gala-Gästen.

Lange Jahre wurde Aids mit dem Nimbus versehen, den die Mischung aus Sexualität, schwuler Lebenswelt und Krankheit als Strafe für Unangepasstheit ergibt. Seit die Immunschwäche in den Industrieländern jedoch nicht mehr zwangsläufig einem Todesurteil gleichkommt, verändert sich die Wahrnehmung. Nun gilt zum einen die Verknüpfung: Aids und Afrika. Das wirft ganz neue Fragen auf. Denn der Kampf der dortigen Länder um bezahlbare Medikamente tangiert die finanziellen Interessen der großen Pharmakonzerne. Deren Aktien werden möglicherweise im Depot einiger Gala-Besucher sein. Und zum anderen zeigt sich Aids hierzulande im Wohnprojekt in der Reichenberger Straße, wo die Verbindung von Krankheit und Armut sowie Krankheit und Sucht offenkundig wird. Fürs öffentliche Interesse fehlt nun das Spektakuläre. Es hat nachgelassen.

Dieses Jahr sind bisher drei Bewohner in der Reichenberger Straße 129 verstorben. „Wenn jemand geht, das reißt einen rein“, sagt Frank B. „Wer ist der nächste, fragt man sich. Man mag die Leute doch auch. Dann weinen wir zusammen und trösten uns gegenseitig.“ Dass man das Sterben mitkriege, das sei der Nachteil des Wohnprojekts, sagt er. „Man kriegt es doch im Vorfeld schon mit. Dann bete ich, stecke eine Kerze an. Dieser Blick kurz vor dem Tod, bei allen Aids-Leuten ist der gleich. Hohl und verlassen. Wie bei meinen Freund.“

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