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Kein Staat, keine Würde

„Wir waren immer fremdbestimmt, erst durch die Osmanen, dann durch die Serben, jetzt durch die Herrschaft der UN-Mission“, sagt ein Student

AUS PRISHTINAERICH RATHFELDER

Der immer währende Verkehrsstau im Zentrum der Kosovo-Hauptstadt Prishtina, das Gehupe der Autos, der durch die Luft fliegende Staub und die Menschenmassen zerren an den Nerven. Sicherlich ist das hier kein idealer Ort für eine Universität. In der in viele Lichthöfe zergliederten Bibliothek aber herrscht angenehme Ruhe. Hunderte von Studenten konzentrieren sich auf ihre Bücher. „Die jungen Leute wollen arbeiten, wollen lernen“, sagt Zejnel Kelmendi, seines Zeichens Rektor der Universität und damit verantwortlich für über 25.000 Studenten und 1.200 Professoren und andere Mitarbeiter. „Wir wissen nur nicht, wie wir den Absolventen weiterhelfen können.“ Denn hier im Kosovo hätten nur wenige eine Chance, eine entsprechende Arbeit zu finden. Und die Türen für die Beschäftigung im Ausland, auch in Europa, seien kaum mehr offen.

Dem kleinen, freundlichen Mann sieht man die Energie nicht an, die er aufbringen musste, um die Universität nach all den Jahren der Unruhen und des Krieges zu reorganisieren. Mit 14 Fakultäten und insgesamt 68 Abteilungen kann sich die Universität, die nach dem Abzug der serbischen Streitkräfte und dem Einmarsch der Nato-Truppen im Sommer 1999 am Boden lag, wieder sehen lassen. Die über die Stadt verteilten Gebäude sind großteils renoviert, die von den Serben mitgenommenen Geräte für die naturwissenschaftlichen Fächer sind wieder angeschafft, viele der damals ebenfalls geraubten Bücher sind wieder ersetzt.

Ohne die Hilfe ausländischer Universitäten wäre dies nicht gegangen, sagt der Rektor und hebt die Hilfe aus Deutschland und Österreich hervor, vor allem die Grazer hätten sich dabei engagiert. Viele der „Besucher von westlichen Universitäten meinen, wir hätten ein unter diesen Umständen erstaunliches Niveau erreicht.“ Das meint auch der 20-jährige Ekrem Matushi. Er studiert Physik und Chemie und will sich für die Umwelt engagieren. „Da gäbe es hier zwar viel zu tun“, lächelt er angesichts der sich türmenden Müllberge, der Verschmutzung der Flüsse und des fehlenden Umweltbewusstseins im Lande. „Doch wer will mir später einen Job geben?“ Einer seiner älteren Brüder sei schon in den 90er-Jahren nach Kanada ausgewandert. „Der will mich nachholen.“ Auch die 19-jährige Biologiestudentin Vlora Berisha steht vor dem gleichen Problem. Eigentlich will sie im Kosovo bleiben und helfen, das Land wieder hochzubringen. „Aber was kann ich nach dem Studium denn schon tun?“

Kosovo ist jung. Wer hier über 50 ist, muss sich als Methusalem vorkommen. Junge Leute beherrschen das Straßenbild, eine der ärmsten Regionen Europas hat mit einem Altersdurchschnitt von unter 20 Jahren die jüngste Bevölkerung des Kontinents. Und diese Menschen drängen danach, Brot und Arbeit zu finden. Dass sich damit eine ungeheure soziale Sprengkraft ansammelt, wurde bei den Märzereignissen deutlich. Nach dem Tod von drei albanischen Kindern in Mitrovica, an dem in den Augen der Albaner Serben schuld waren, kam es zu einer spontanen Protestbewegung, die von nationalistischen Gruppen gegen die serbische Minderheit im ganzen Land gelenkt wurde.

Nur wenige Studenten Prishtinas waren bei den direkten Angriffen auf serbische Kirchen, Häuser und Denkmäler dabei. Deren Protest zielte mehr gegen die UN, die das Kosovo seit dem Einmarsch der Nato regieren. Fahrzeuge der Unmik, der UN-Mission im Kosovo, gingen damals in Flammen auf. So jedenfalls interpretiert einer der Professoren der Politischen Wissenschaften das Geschehen. Der 35-jährige Enver Hoxhaj studierte hier an der Universität selbst Geschichte, musste 1992 die Universität verlassen, als damals der serbische Präsident Milošević die Albaner Kosovos aus dem Erziehungssystem drängte. Er studierte und promovierte dann in Wien mit einer Arbeit über die römische Geschichte im Kosovo und engagierte sich im Boltzmann-Institut für Menschenrechte. 1999 nach Kosovo zurückgekommen, profilierte er sich schnell als einer der Motoren der „Zivilgesellschaft“, kümmerte sich um die Rechte der Minderheiten und forderte Aufklärung über das Schicksal der 4.000 während der serbischen Herrschaft Verschwundenen.

Enver Hoxhaj gehört heute neben dem Verleger Veton Suroi zu den anerkannten Intellektuellen des Landes. „Wir müssen jetzt etwas unternehmen, so kann das nicht weitergehen“, sagt der schlanke, feingliedrige Mann. „Unsere Gesellschaft hat keine Richtung, kein Selbstbewusstsein und keine Hoffnung auf Besserung.“ Die UN-Mission verwalte das Land, habe eine riesige und ineffektive Bürokratie aufgebaut, doch zeige sie den Menschen keine Perspektiven und tue sich schwer, Machtbefugnisse an die vom Volk gewählten Institutionen, wie das Parlament und die Gemeindevertreter, abzugeben. Nach wie vor sei die Frage des Status des Kosovo ungelöst und damit die Frage der Besitzverhältnisse am Staatseigentum.

Nach wie vor würden von der Unmik die Milošević-Gesetze respektiert, wonach das Staatseigentum Serbien gehört und nicht dem Kosovo. Unter diesen Umständen sei es unmöglich, nennenswerte Investitionen ins Land zu holen. Ohne diese Investitionen aber könne es keine Zukunft für seine Studenten und das Land geben. Dann lässt er die Katze aus dem Sack. Er selbst wolle sich nun in der Politik engagieren und trete als Kandidat für die Partei des Ex-UÇK-Führers Hashim Thaci im Wahlkampf für die Parlamentswahlen am Wochenende auf.

Enver Hoxhaj bei Thaci, dessen „Demokratische Partei Kosova“ (PdK) im Ruch steht, hinter den Extremisten der Märzereignisse zu stehen? Das ist im Kosovo schon eine mittlere Sensation. „Wir müssen nach vorne sehen.“ Die Partei sei wie Thaci selbst pragmatisch geworden, habe keine Ideologie, sei formbar. „Hinter der Wahlkampf-Parole ,Arbeit, Staat und Würde‘ stehe ich. Ich möchte im Parlament etwas für mein Land bewegen.“ Zunächst einmal im Wahlkampf.

Der Gemeindesaal der westlich gelegenen Stadt Suva Reka ist mit mehreren hundert Menschen überfüllt, hier am Ort ist Enver Hoxhaj aufgewachsen. Jugendliche, Alte, Geschäftsleute und arme Landbewohner sitzen einträchtig zusammen, um ihn zu sehen, den verlorenen und jetzt zurückgekehrten Sohn. Beifall brandet auf, als sein Name angekündigt wird, abwechselnd „Enver, Enver“ und dann „Thaci, Thaci“ hallt es aus der Menge. Als er kurz das Programm darlegt, mehr Rechte für das Parlament fordert, die Korruption geißelt, auf Menschenrechten beharrt und erklärt, die internationale Gemeinschaft müsse sich in der Statusfrage bewegen, brandet tosender Beifall auf. Der ehemals distanzierte Intellektuelle hat die Herzen der Anwesenden gewonnen. Und es gibt keinen Zweifel mehr, dass er den Sprung ins Parlament schaffen wird.

An der Universität hat der Rektor den Wahlkampf verboten. Plakate der Parteien sind hier nicht zu sehen, und doch weiß jeder, welch ungewöhnlichen Schritt einer der Professoren gegangen ist. Am Institut für Politische Wissenschaften ist sich eine Gruppe Studenten einig, dass sich in der Gesellschaft endlich etwas bewegen muss und dass militante Demonstrationen dafür nicht geeignet sind.

„Wir Albaner des Kosovo waren immer fremdbestimmt, im Osmanischen Reich, nach der Annexion durch die Serben 1912, auch im kommunistischen Jugoslawien, dem Milošević-Serbien und schließlich durch die Herrschaft der UN-Mission“, sagt ein Student, „jetzt müssen wir lernen, uns selbst und das Kosovo zu regieren.“ Auch er überlege, dem Beispiel des Professors zu folgen und sich politisch zu engagieren. Die Gesellschaft müsse sich modernisieren, da habe Enver Hoxhaj Recht, müsse ein neues Bewusstsein der Selbstverantwortung entwickeln, erklärt er unter beifälligem Nicken der anderen.

Im östlichen Teil der Stadt, in einem der vielen Armenviertel, ist von Aufbruchstimmung nichts zu spüren. Müll liegt auf der Straße, in den engen Gassen drängen sich die Menschen. Jeder versucht, irgendetwas zu verkaufen. Der 35-jährige Bekim handelt mit geschmuggelten Zigaretten. Vier kleine Kinder habe er, mit den Zigaretten verdiene er kaum fünf Euro am Tag und das Leben sei teuer. Allein schon die Heizkosten im Winter seien nur schwer aufzubringen. Hier im Viertel seien die meisten arbeitslos, schlügen sich wie er irgendwie durchs Leben, viele hätten nicht genug zu essen.

„Ich kann für meine Kinder nichts tun, ihnen mal Süßigkeiten kaufen.“ Und dass sie mal studieren könnten, sei undenkbar. Schon die Schuluniformen des Ältesten zu finanzieren war nur durch die Großeltern möglich. „Unsere Politiker und die UN-Leute aber haben doch alles, die sind doch alle eine große Mafia“, sagt er verbittert, „denen sind wir doch egal.“ Er jedenfalls werde am Samstag nicht zu den Urnen gehen. So wie vielleicht die Hälfte der Bevölkerung des Kosovo nicht. Wie hatte der neue Politiker Enver Hoxhaj in der Universität noch zu Recht geseufzt? „Wir werden wohl Vertrauen bei vielen zurückgewinnen müssen.“

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