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Meeresauge und Adlersteig

Wandern in der Hohen Tatra bietet sowohl Einsteigern als auch passionierten Bergfans die perfekte Kulisse. Hinweisschilder warnen vor Braunbären, dem unbestreitbaren Stolz der Tatra. Der Weg zum größten See der Region, dem Morskie Oko, gehört zum Pflichtprogramm eines Besuchs in Zakopane

VON SUSANNE LANGER

Tief unter uns rollt eine dicke Nebeldecke über den Bergsee Morskie Oko. „Auge des Meeres“ heißt der größte Bergsee in der polnischen Tatra, weil man ursprünglich glaubte, dass er eine unterirdische Verbindung zum Meer habe. Wie Ozeanwellen in Zeitlupe schäumt die grauweiße Masse gegen die herbstlichen Berghänge, die sie wieder zurückdrängen. Die nächste Windböe peitscht die Schwaden erneut über das Meeresauge, das unergründlich in den weiten Himmel blickt und das umgebende Bergmassiv in seiner Iris spiegelt.

Im Herbst hat die Hohe Tatra Hochsaison. Wandern ist polnischer Breitensport. Am Eingang des Nationalparks stehen die Freunde des alpinen Bergsports Schlange, um ihr Ticket für den Gipfelsturm zu lösen. Hinweisschilder warnen vor Braunbären, dem unbestreitbaren Stolz der Tatra. Dank umfangreicher Schutzmaßnahmen konnten die Tiere gerade noch vor ihrer Ausrottung gerettet werden. Heute leben schätzungsweise 20 Exemplare in den Bergen zwischen Zakopane im Norden auf polnischer Seite und Poprad auf der slowakischen Südseite.

Ab und zu versuchen sich die Könige des Tatra-Tierreiches als Wegelagerer und hoffen auf Leckerbissen aus den Wanderrucksäcken. Das Füttern ist allerdings sowohl für die Bären als auch für die Menschen gefährlich. Die Pflanzenfresser vertragen zwar die Kost nicht, gewöhnen sich aber an den Futterservice. Damit machen sie vor allem den Wirten der Schutzhütten das Leben schwer. Ein vorwitziger Braunbär wurde schon vor dem Kino in Zakopane angetroffen.

Kurz vor der slowakischen Grenze bei Łysa Polana eine halbe Stunde von Zakopane entfernt schlängelt sich das Fischtal „Dolina Rybiego Potoku“ sanft hinauf. Pferdewagen bieten ihre Dienste zum Morskie Oko an. Der Weg zum größten See der polnischen Tatra gehört zum Pflichtprogramm eines Besuchs in Zakopane. „Für uns ist der Morskie Oko ein romantischer Ort – ein bisschen wie Neuschwanstein in Deutschland“, erklärt uns eine der zahlreichen Pilgerinnen. Sogar der Papst übernachtete schon in der Schutzhütte an seinen Ufern.

Die Hohe Tatra gilt den Polen als Nationalheiligtum. Während der zahlreichen Fremdbesetzungen des Landes, von der Teilung zwischen Russland, Preußen und Österreich bis zum Einmarsch der Nazis, organisierte sich von hier aus der Widerstand. Zakopane wurde sofort am 1. September 1939 von den Nazis besetzt und ab 1942 zum Sperrgebiet erklärt. Adam Palmrich führte seit 1943 den Außenposten der Heimatarmee in der Tatra. Am 20. Januar 1945 verurteilte die Armee den von den Nazis eingesetzten Bergkommandanten Wracław Krzetowski zum Tode. Die meisten der anderen Kollaborateure konnten entkommen. Schon neun Tage später fiel die Stadt Zakopane in die Hände der Roten Armee. Nach dem Krieg kann sie schnell wieder an ihre Tradition als Sommerresidenz und Luftkurort anknüpfen. Die Skiweltmeisterschaften 1962 festigen ihren internationalen Ruf.

Wer die planierte Rennstrecke zum Morskie Oko verlassen will, kann rechts in das Tal Dolina Roztoki abbiegen. Durch Kiefernwälder vorbei an wildem Rhabarber klettert ein gepflegter Natursteinpfad in die Höhe und erreicht nach zwei Stunden die steile Flanke des Wyźnia Kopa. Auf halber Höhe stürzt ein Wasserfall fauchend und schäumend aus dem oberhalb gelegenen Fünfseental. Das Gletschereis hat einst die Täler in mehreren Terrassen ausgewaschen und über hundert Bergseen hinterlassen. Sie blinken wie Edelsteine zwischen den weißen Kronen der Bergspitzen – mal klar wie ein Bergkristall, mal smaragdgrün oder unergründlich schwarz.

Obwohl feuchtkalter Nebel über dem Tal hängt, sind wir von dem steilen Anstieg parallel zum Wasserfall bis aufs Hemd durchgeschwitzt. Nach drei Stunden erreichen wir die Schutzhütte am See. Dicke Mauern aus groben Steinblöcken, geduckt unter einem ausladenden Schieferdach mit schmalen Fensterschlitzen, versprechen erholsame Rast. Der holzgetäfelte Gastraum platzt aus allen Nähten. Wir sind erleichtert, dass wir zwei Schlafplätze reserviert haben. Trotz der hundert Betten ist das Haus ausgebucht. Allerdings wird kein Wanderer abgewiesen. Zu später Stunde kann jeder seinen Schlafsack im Wirtsraum ausrollen. Wer die reichhaltige Speise- und Getränkekarte auf Polnisch mit Hilfe eines Reisedolmetschers entziffern kann, bekommt hier alles von Cappuccino und gedecktem Apfelkuchen bis Gulasch und Pierogi, Teigtaschen gefüllt mit Käse, Sauerkraut oder Waldpilzen. Am Küchenbuffet dampft heißes Wasser für die Thermoskanne.

Die Wanderer in der Tatra sind jung: Studenten aus Krakau, Lodz oder Warschau – aber auch aus Friedrichshafen. 16 Stunden dauerte die Busreise für Felix vom Bodensee nach Zakopane. Er kommt nicht nur der Berge wegen: Seine Freundin Maja hat der Medizintechnikstudent bei einem Praktikum in Lübeck kennen gelernt. Sie geht jedes Jahr mit ihren Kommilitonen im Herbst wandern. Nur fürs Snowboarden sind die Alpen besser. „Zum Üben ist es hier aber ganz o. k.“, stellt sie gönnerhaft fest. Im Winter wird es wohl ruhig in dieser Hütte, da sie nicht an den Skihängen auf der anderen Seite des Tatrakamms liegt. Nur nicht zu Silvester. Für Marek aus Warschau steigt hier die beste Fete, und er kommt jedes Jahr hierher.

Am nächsten Tag ist der Nebel verschwunden, der Himmel hängt hoch und gibt den Blick frei auf die Gipfelkronen. Im Norden verschließt der Kamm Orla Perć das Tal. Der „Adlersteig“ führt als zwölfstündige Klettertour über die Felsspitzen des Gebirgszuges mit einem Blick mal nach Norden weit über Zakopane hinaus in die Ebene von Krakau, mal in den slowakischen Süden. Der Świnica überragt mit 2.300 Metern den Grat. Zawratowa, Kozi Wierch, Kościelec, Granaty – wie auf einer Perlenschnur liegen die Bergspitzen verbunden über steile Kletterpfade. Dank fest eingelassener Metallseile und vereinzelter Steighilfen in den Felsnasen kann der Kamm auch ohne professionelle Bergsteigerausrüstung bezwungen werden – gutes Schuhwerk und Schwindelfreiheit vorausgesetzt. Näher kann man den Adlern nicht kommen.

Die Bergfreunde vom Vorabend waren skeptisch: „Zu viel Schnee auf dem Świnica, da kommt ihr jetzt nicht hoch“, winkte Maja ab. Aber so schnell geben wir nicht auf. Das nächste Bett wartet in einer Hütte auf der anderen Seite des Adlersteigs. Wir müssen also zumindest über den Pass Zawrat. Durch die Schneefelder führt ein Pfad aus Natursteinen, der fast immer einen eisfreien Tritt bietet. Nach jeder erklommenen Terrasse belohnt uns ein neuer spektakulärer Blick. Im Süden steigt über den dazwischenliegenden Flanken der Rysy auf, der höchste Berg auf polnischer Seite. Unter uns liegt tiefschwarz der See Zadni. Bis zum Pass zehrt der Anstieg über 500 Höhenmeter zwar an den Kräften, aber der Weg ist bequem. Erst beim Anblick von ganz oben in den Abgrund auf der anderen Seite erinnert man sich an eine Katze, die tollkühn in den Baum klettert und nicht weiß, wie sie wieder herunterkommen soll.

In der Tiefe zeichnen sich Serpentinen in ein Schneefeld, auf dem Wanderer als kleine Punkte langsam hochkriechen. Vorsichtig, jeden Schritt auf Halt abtastend, gleiten wir an den Kletterseilen in die Tiefe. Nach jeder Felsstufe ein ungläubiger Blick nach oben. Die Bergwand ragt ungerührt über meinen Kopf. Kaum zu glauben, dass wir scheinbar direkt aus dem Himmel in dieses Tal geklettert sind.

Nach einer halben Stunde zwischen Himmel und Erde haben wir wieder festen Boden unter den Füßen. Der Weg schlängelt sich durch steile Geröllfelder um Felsen, die die Schneewüste bewachen, hinunter zum nächsten See. Nach einer scharfen Wendung um ein Steinmassiv öffnet sich unvermittelt der Blick auf die nächste Terrassenstufe. Ein grünes Tal gesprenkelt mit Herbsttönen im Abendlicht führt uns aus der weißen Winterlandschaft zurück in den Spätsommer.

Auf dem Weg nach Zakopane durch das Tal Dolina Jaworzynka zeigt sich die Hohe Tatra von ihrer lieblichen Seite: sanft abfallende Nadelwälder um saftig grüne Wiesen, die im Frühling in allen Farben leuchten. Darüber thronen die Massive der Vorgebirge, die gestern so tief unterhalb der Schneefelder lagen. Der Adlersteig ist hinter Kiefernspitzen verschwunden und lässt uns allein mit der Sehnsucht nach der Freiheit der Lüfte. Er weiß, dass wir wiederkommen, weil wir seinem Zauber verfallen sind.

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