piwik no script img

Das Fax, das die Gefängnistüren öffnete

Ein überraschendes Schreiben des Bundeskriminalamts führt zur Freilassung des angeblichen Al-Qaida-Mitglieds Mzoudi. Gericht zweifelt an gesamter Indizienkette. Auch der mutmaßliche Terrorhelfer Motassadeq hofft jetzt auf ein Ende seiner Haft

aus Hamburg KAI VON APPEN

Die Sensation ist perfekt. Der 3. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts hat gestern im zweiten Prozess um die Anschläge vom 11. September 2001 den Haftbefehl gegen den Angeklagten Abdelghani Mzoudi aufgehoben. „Der Angeklagte ist sofort aus der Haft zu entlassen“, erklärte der Vorsitzende Richter Klaus Rühle. „Es bestehen Zweifel an der bisherigen Indizienkette.“ Die Bundesanwaltschaft legte unverzüglich Beschwerde beim Bundesgerichtshof ein, ohne aber vom Mittel der aufschiebenden Wirkung Gebrauch zu machen. Mzoudi konnte den Verhandlungssaal zu Mittagspause und Gebet durch die Vordertür verlassen.

Die überraschende Wende vollzog sich innerhalb weniger Stunden. Monatelang hatten die bundesdeutschen Sicherheitsbehörden darum gerungen, dass die US-Kollegen die Vernehmungsprotokolle des mutmaßlichen Drahtziehers Ramzi Binalshibh herausgeben. Gestern um 8.28 Uhr, kurz vor Verhandlungsbeginn, traf beim Gericht per Fax ein Schreiben des Bundeskriminalamts ein.

Darin erklärt ein Abteilungspräsident, dass eine „Auskunftsperson“ im November 2003 Angaben gemacht habe, „wonach die einzigen Personen, die als Mitglieder der ‚Hamburger Zelle‘ beschrieben werden könnten, Binalshibh und die drei Todespiloten Mohammed Atta, Marwan al-Shehhi und Ziad Jarrah gewesen sein sollen“.

Binalshibh und die drei Piloten hätten zu keiner Zeit über „terroristische Operationen“ oder die „Bildung einer terroristischen Vereinigung mit anderen gesprochen“, sondern sie hätten ihre Freunde ausdrücklich von den Planungen ausgeschlossen.

Bereits im Oktober hatte der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, in wesentlichen Punkten der Anklage widersprochen. Die Flugzeuganschläge seien nicht in Hamburg, sondern in Afghanistan geplant worden, sagte Fromm.

Gericht und Verteidigung gehen nun davon aus, dass es sich bei den Angaben der Auskunftsperson um Aussagen von Binalshibh handelt, der von den US-Behörden an einem unbekannten Ort abgeschottet wird. „Da wir die Glaubwürdigkeit von Binalshibh nicht überprüfen können und angesichts des Verhaltens der deutschen Behörden ist eine weitere Aufklärung nicht möglich“, sagte Richter Rühle gestern genervt.

Allein der Aufenthalt von Mzoudi in einem Al-Quaida-Ausbildungslager reiche nicht aus, um einen Haftbefehl zu rechtfertigen. Auch für Mzoudi gelte der Grundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten.

Verteidigerin Gül Pinar wurde von der Wende ebenfalls überrascht. Sie sagte, die Entwicklung sei auf das Blockadeverhalten im Bundeskanzleramt zurückzuführen. „Das Gericht hat gemerkt, dass es an der Nase herumgeführt wird.“

Sofort nach der Aufhebung des Haftbefehls für Mzoudi beantragte der Anwalt des bereits verurteilten Mounir al-Motassadeq, Gerhard Strate, die Aufhebung des Haftbefehls auch für seinen Mandanten. Er hofft, dass der Haftbefehl spätestens heute außer Vollzug gesetzt wird. Motassadeq war im Februar dieses Jahres von demselben Gericht ebenfalls wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 3.000 Fällen zu 15 Jahren Haft verurteilt worden. „Es zeigt, wie schnell man in einen Justizirrtum rennen kann“, sagte Strate.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen