: EU gottlos und zerstritten
Ab heute beraten die EU-Chefs in Brüssel über eine gemeinsame Verfassung. Ein Scheitern des historischen Gipfels ist nicht ausgeschlossen – und Hilfe von ganz oben lehnt der Bundestag ab
BRÜSSEL/BERLIN ap/dpa/taz ■ Der heute beginnende EU-Gipfel in Brüssel sollte historisch werden: Erstmals wollten sich die 15 EU-Mitglieder und die Beitrittsländer eine Verfassung geben. Historisch könnte er nun durchaus sein – aber möglicherweise aus einem anderen Grund: Die Positionen in strittigen Fragen prallen so unversöhnlich aufeinander, dass ein Scheitern des Gipfels und damit einer gemeinsamen EU-Verfassung nicht mehr auszuschließen ist.
„Wenn wir eine Einigung erreichen, dann wäre das ein Wunder“, sagte Silvio Berlusconi, italienischer Ministerpräsident und amtierender EU-Ratsvorsitzender, gestern bei seiner Ankunft in Brüssel. Sein Landsmann und Rivale Romano Prodi, EU-Kommissionspräsident, meinte: „Selten oder nie zuvor haben unsere politischen Führer eine so entscheidende Sitzung des Europäischen Rats abgehalten.“ Bundesaußenminister Joschka Fischer sagte gestern im Bundestag: „Europa steht vor einer der wichtigsten Weichenstellungen seiner jüngeren Geschichte.“
Zentraler Streitpunkt ist die Frage der zukünftigen Stimmengewichtung im Ministerrat. Der im Juli vorgelegte Verfassungsentwurf des EU-Konvents stärkt unter Hinweis auf die Bedeutung der Einwohnerzahl der EU-Mitglieder bei der Entscheidungsfindung große EU-Staaten wie Deutschland und Frankreich; Spanien und Polen halten demgegenüber am EU-Vertrag von Nizza aus dem Jahr 2000 fest, der sie annähernd so stark macht wie die „Großen“. Keine Seite will derzeit nachgeben. Mehrere kleine und mittelgroße Staaten sind zudem gegen den Vorschlag des Konvents, nach der EU-Erweiterung auf 25 Staaten nur 15 stimmberechtigte Mitglieder in die Kommission zu entsenden.
Als möglicher Kompromiss deutete sich gestern an, dass zumindest ein Teil der in Brüssel anstehenden Entscheidungen auf 2004 verschoben werden könnte. Romano Prodi – der die deutsch-französische Haltung im Streit um die Stimmenverhältnisse unterstützt – sagte: „Eine Verschiebung hätte natürlich keine katastrophalen Folgen.“ Strittig ist aber, ob das heißt, dass der Gipfel überhaupt nichts verabschiedet, oder ob nur die Abstimmung über einzelne Punkte auf später verschoben wird.
„Kein Ergebnis in diesem Jahr ist deutlich besser als ein schlechtes Ergebnis, das die Arbeit in Europa verzögern oder verhindern würde“, erklärte auch Außenminister Joschka Fischer gestern im Bundestag. Bundeskanzler Gerhard Schröder suchte das Gespräch mit dem polnischen Präsidenten Aleksander Kwaśniewski; Polen hat vorgeschlagen, die Entscheidung über die Stimmengewichtung auszuklammern und erst später zu fällen. Dann käme auch wieder Geld ins Spiel: Denn im Frühjahr geht es auch um die nächste EU-Finanzplanung, bei der Polen und Spanien auf Deutschland und Frankreich angewiesen sind. Nach dem Treffen äußerte sich die polnische Seite allerdings pessimistisch. Es habe keine Annäherung gegeben, sagte Polens Außenminister Włodzimierz Cimoszewicz.
Der Bundestag lehnte gestern mit den Stimmen der rot-grünen Koalition einen Antrag der Unionsfraktion für einen Gottesbezug in der EU-Verfassung ab, den unter anderem auch Polen und Irland wollen. 315 Abgeordnete waren in der namentlichen Abstimmung dagegen, 264 dafür. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, sowie die Abgeordneten Antje Vollmer, Christa Nickels, Werner Schulz, Josef Winkler und Thilo Hoppe betonten in Erklärungen, dass sie einen Gottesbezug befürworteten; die Union beziehe sich in ihrer Antragsbegründung jedoch allein auf die christlich-abendländische Wertetradition und schließe damit die islamische und humanistische Tradition aus.
Während sich die Gipfelaussichten in Brüssel verdüsterten, behauptete Berlusconi in Rom, er habe eine Wunderformel für den Gipfelerfolg, wollte sie aber noch nicht preisgeben. „Ich habe eine Formel im Ärmel, die Polen und Spanien als große Staaten anerkennt“, sagte er. „Ich werde sie in letzter Minute herausrücken und sehen, ob sie das akzeptieren.“ Eine andere Variante: Der Gipfel billigt jetzt den Konventsentwurf – aber er tritt nicht wie geplant 2009 in Kraft, sondern erst 2014. Bis dahin wäre ja noch viel Zeit, die Verfassung wieder zu verändern.
D. J.
brennpunkt SEITE 4 und 5
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