: Staatsfrau Merkel übt schon mal
Die CDU-Chefin wird sich dem positiven EU-Votum zur Türkei beugen. Für den deutschen Wahlkampf gegen Rot-Grün findet sie das Aufregerthema weiter nützlich
BERLIN taz ■ Sie waren alle da, der Kanzler, der Außenminister, der Chef der Sozialdemokraten und die Oppositionsführerin der Union. Die gestrige Bundestagsdebatte und Abstimmung über die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ließ sich keiner der Großkopfeten entgehen. Auch an erhabenen Worten mangelte es nicht. Es sei „von historischer Bedeutung“, welche Weichen zur Erweiterung der EU gestellt würden, betonte Angela Merkel. Betonte Joschka Fischer. Betonte ebenso Franz Müntefering: „An der Stelle sind wir uns einig.“ Das war’s aber schon mit der Gemeinsamkeit.
CDU-Chefin Merkel wiederholte noch einmal, dass eine „privilegierte Partnerschaft“ besser wäre als eine Vollmitgliedschaft der Türkei. SPD-Chef Müntefering entgegnete unbeeindruckt: „Es werden Verhandlungen aufgenommen mit dem Ziel des Beitritts.“ Es war kein Zufall, dass Merkel im Konjunktiv und Müntefering im Indikativ sprachen. Rot-Grün fühlt sich, spätestens nach dem klaren Pro-Verhandlungs-Votum des EU-Parlaments vom Mittwoch, auf der Siegerstraße und genießt die Schadenfreude darüber, dass die Konservativen auch mit ihrem Wunsch nach einer geheimen Abstimmung in Straßburg den Trend nicht stoppen konnten. „In Deutschland Unterschriftenlisten ankündigen und selbst geheim abstimmen“, das sei wohl „die christdemokratische Leitkultur“, spottete Müntefering. Außerdem sei ihm nicht klar, was die Union überhaupt mit „privilegierter Partnerschaft“ meine. „Das halten Sie genauso geheim“, warf er Merkel vor. Außenminister Fischer merkte an, die von Merkel gewünschten besonderen Beziehungen mit der Türkei gebe es bereits. Jetzt gehe es „um die Modernisierung der Türkei“, die man nur mit einer klaren Beitrittsperspektive befördern könne. Wie erwartet, sprach sich dafür auch die rot-grüne Mehrheit aus. Also alles nur ein Pflichtprogramm?
Zwischen den Zeilen waren durchaus aufschlussreiche Signale herauszuhören. Merkel zum Beispiel verzichtete darauf zu versprechen, dass die Union im Falle eines Wahlsiegs in zwei Jahren die türkeifreundlichen Entscheidungen der jetzigen Regierung rigoros rückgängig machen werde – so wie das ihr CSU-Kollege Edmund Stoiber angekündigt hatte. Stattdessen erklärte Merkel, die Union werde „anhand des Sachstands, wie wir ihn 2006, wenn wir an der Regierung sind, vorfinden“ entscheiden, wie es dann in Sachen Türkei weitergehe. „Dass wir die EU-Entscheidung nicht einfach zurückdrehen können“, hatte Merkel vorher schon in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung eingeräumt. Wer will, kann aus diesen eher bedächtigen Äußerungen schließen, dass Merkel vorsichtig den Rückzug antritt, weg von einem kategorischen Nein zum EU-Beitritt der Türkei, das später nicht zu halten sein wird – schon weil die FDP nicht mitmacht. Merkel will sich nicht vorwerfen lassen, die Kontinuität der deutschen Außenpolitik zu gefährden. Neben der Staatsfrau in spe gibt es aber natürlich auch noch die Wahlkämpferin Merkel. Und die kündigte an, man werde auch 2005 und 2006 weiter über die Folgen der rot-grünen „Fehlentscheidung“ zur Türkei reden. LUKAS WALLRAFF
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