: Aus Briefen werden wieder Menschen
Die Ausstellung „Aus Kindern wurden Briefe“ zeigt das Schicksal von jüdischen Kindern, die während der Nazi-Zeit ins Ausland flohen. Einer davon war Georg Dreyfus. Der 76-Jährige lebt heute in Australien. Für die Ausstellung kam er zurück nach Berlin
VON TORBEN IBS
Georg Dreyfus ist ein Vorzeigesenior, ein weltgewandter noch dazu. Trotz seiner 76 Jahre reist der Musiker und Komponist immer noch viel, besonders um seine Musik über den ganzen Erdball zu verbreiten. Bei seiner ersten großen Reise allerdings ging es nicht um die Musik als um sein Leben.
Er war einer von 17 jugendlichen Emigranten, die am 12. Juni 1939 Berlin in Richtung Australien verlassen konnten. Es war ein reiner Kindertransport. Die Eltern blieben in Berlin, sie hatten keine Visa und planten meist eine spätere Ausreise. Für viele der Kinder war es ein Abschied für immer, denn eine Ausreise der Eltern gelang nur in den wenigsten Fällen. „Viele Eltern wussten, dass sie ihre Kinder nie wiedersehen werden. Viele weinten am Bahnhof Zoo, wo wir uns zur Abfahrt versammelt hatten“, erzählt Dreyfus über die erste Etappe seiner Flucht. Er erzählt wie ein Chronist, der zwar dabei war, aber den es nicht mehr viel angeht.
Georg Dreyfus lebt immer noch in Melbourne, dort allerdings als George. Er war einer der Glücklichen, der seine Eltern nicht für immer verloren hatte. Sie erhielten einen Tag nach der Ausreise ihrer beiden Söhne ein australisches Visum und kamen nach. Den anderen Eltern und ihren Kindern blieb als Kommunikationsform nur der Postweg. Eine geflügelte Redewendungen unter deutschen Juden war daher „Aus Kindern werden Briefe“.
So lautet deshalb auch der Titel der Ausstellung im Centrum Judaicum in der Neuen Synagoge an der Oranienburger Straße, die sich diesem Thema widmet. Eine Tafel ist auch Georg Dreyfus gewidmet. Statt des schlanken, Mannes mit Halbglatze, der er heute ist, sieht man das Foto eines Jungen mit dichtem schwarzem Haar. Heute wirkt der braungebrannte 76-Jährige für sein Alter sehr fit. Er redet gern und viel in sehr lebendigen Tonfall. Sein Deutsch hat der Fagottist, der seit Kindesalter Musikunterricht genoss, in all den Jahren nicht verlernt. Nur manchmal schleichen sich englische Ausdrücke ein, wenn ihm die deutschen entfallen sind.
Die Kindergruppe gelangte 1939 über Bremen nach England. Von dort aus fuhren sie mit dem Schiff bis nach Australien. Nach langer Überfahrt erreichten sie Melbourne, wo sie im Larino’s Children’s Home untergebracht wurden, einem jüdischen Kinderheim.
Bereits vor ihrer Abreise hatten die Kinder gemerkt, dass irgendetwas anders war in Deutschland. So zog die Familie Dreyfus 1936 nach Berlin um, weil die Repressalien im heimischen Wuppertal immer stärker wurden. Dort wurde die Schrotthandlung des Vaters „arisiert oder besser gestohlen“. Dreyfus und sein zwei Jahre älterer Bruder Richard durften nicht mehr die Schule besuchen. In Berlin gingen sie dann auf die Theodor-Herzl-Schule, eine jüdische Schule in Charlottenburg.
Es war der Versuch einer Flucht in die Anonymität der Großstadt, aber auch hier wurde das Klima rauer. Dreyfus erinnert sich noch an einen Tag, als er bei einem Geschäft um die Ecke Bonbons kaufen wollte. „Draußen am Laden hing ein Schild auf dem stand: Juden unerwünscht. Da bin ich weinend nach Hause gerannt. Ich weiß gar nicht mehr, was mich mehr geärgert hat. Dass ich keine Klümpchen kaufen konnte oder die Sache überhaupt.“
Aber erst nach der „Reichskristallnacht“ wurde die heraufziehende Bedrohung von allen Juden wirklich ernst genommen. Viele Eltern beschlossen, ihre Kinder ins Ausland bringen zu lassen. Jüdische Flüchtlingsorganisationen organisierten die Reisen der Kinder in alle Welt, um sie vor den Gefahren der Nazi-Herrschaft zu retten.
Ein kleiner Bildschirm zeigt in Schwarz-Weiß Szenen aus dem jüdischen Kinderheim in Melbourne, in dem Dreyfus und seine 16 Mitreisenden untergebracht waren. „Ich bin auch drauf, mit Lederhosen“, erzählt der Musiker und verweist stolz auf die Hintergrundmusik, die er ursprünglich für eine australische Fernsehserie verfasst hat. „Larino – Safe Haven“ heißt das Stück. Der Titel erinnert an den Namen des Heims, das den jugendlichen Zwangsemigranten eine neue Heimat bot. „Die Serie war schlecht, aber die Musik die passt doch wunderbar zu den Bildern hier.“
Auch sonst hat er viel Musik für Fernsehserien geschrieben und war auch selber in Orchestern aktiv, sei es als praktizierender Musiker oder als Dirigent. Einmal trat er sogar in der Villa Massimo der deutschen Akademie in Rom auf. Er wurde dort als Komponist ernster deutscher Musik vorgestellt. Eine Bezeichnung, die ihn nicht stört. „Ich bin ein deutscher Künstler in Australien“, sagt er. Er schämt sich nicht seiner kulturellen Wurzeln, genießt aber gleichzeitig die Leichtigkeit mit die Australier mit Kunst und Musik umgehen. „Man muss immer in Bewegung bleiben.“
Er geht weiter zu der Ausstellungstafel, die ihn am meisten bewegt. Auf ihr stehen die Namen von 4.279 Kindern, die zwischen 1923 und 1941 in Berlin geboren wurden und in einem der zahlreichen Konzentrations- und Vernichtungslager ermordet wurden. „Ich habe als Erstes geschaut, ob mein Name drauf steht“, erzählt er. Und als ob er sich vergewissern will, schaut er wieder nach. Aber der Name Dreyfus findet sich nicht auf der Tafel, die Familie hat es komplett nach Australien geschafft.
Insgesamt haben die jüdischen Flüchtlingsorganisationen, allen voran die zionistische Alija-Jugend, 12.000 Kinder vor dem sicheren Tod retten können. Wer blieb, für den gab es kein Entkommen, es sei denn es gelang unter fürchterlichen Umständen unterzutauchen. Dreyfus: „Wenn ich am ersten Juni damals nicht auf das Schiff gegangen wäre, wäre ich tot gewesen.“
Trotz allem ist er nach dem Krieg immer wieder gern nach Deutschland gekommen und hat auch in seiner Musik seine kulturelle Herkunft nicht verleugnet. Am traditionellen Ostermontagskonzert hat er sogar, als erster australischer Komponist überhaupt, ein Konzert der Berliner Philharmonie dirigiert – ein Blaskonzert mit seinen eigenen Stücken. Die dirigiert er jetzt immer häufiger, egal ob in Australien, Deutschland oder Israel. „Künstler sollen ihre Kunst anbieten, und ich bereise dabei halt die Welt.“ Und er weiß, wem er es zu verdanken hat.
Die Ausstellung ist bis 21. Januar in der Neuen Synagoge, Oranienburger Str. 28–30, zu sehen. Öffnungszeiten: sonntags bis donnerstags 10–18 Uhr, freitags 10–14 Uhr, sonnabends geschlossen. Eintritt: 2,50 €, ermäßigt €. www.cjudaicum.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen