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„Hartz IV ist der richtige Weg“

Rolf Seutemann

„Als ich arbeitslos war, lag die bundesweite Arbeitslosenquote bei 0,8 Prozent; in meinem Heimatbezirk in Göttingen betrug sie 3,5 Prozent“„Wenn man 30 Jahre mit Arbeitslosigkeit zu tun hat, sind die Emotionen weg, was die administrativen Prozesse angeht. Aber persönliche Schicksale berühren mich jedes Mal“

Die Arbeitsmarktreform Hartz IV erregt die Gemüter, ruft auch heute wieder Protestler auf den Plan. Rolf Seutemann, Chef der Berlin-Brandenburger Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit, begrüßt die Reform nicht nur, er setzt sie um. Junge Arbeitslose sollen sofort besser betreut und schneller vermittelt werden. Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt der Region erwartet der 62-Jährige in diesem Jahr aber noch nicht. Seit 1971 ist der Volkswirt für die Bundesanstalt für Arbeit tätig, vor seinem Wechsel nach Berlin im August 2003 leitete er das Landesarbeitsamt Nord. Seutemann kennt Arbeitslosigkeit aus eigener Erfahrung. Ein Gespräch über die Arbeit, die Reform und die Region

INTERVIEW UWE RADA UND RICHARD ROTHER

taz: Herr Seutemann, nur einmal angenommen, unser Unternehmen ginge Pleite. Nach erfolgloser Arbeitssuche kommen wir, zwei arbeitslose Journalisten im Alter von 41 und 35 Jahren, zu Ihnen in die Arbeitsagentur. Was würden Sie uns raten?

Rolf Seutemann: Dass Sie sich schon selbst um Arbeit bemüht haben, ist erst einmal sehr gut. Bevor ich Ihnen einen Rat geben könnte, würde ich mir Ihre bisherigen Bemühungen ansehen und mit Ihnen besprechen, warum Sie bislang keinen Erfolg hatten. Dann stellt sich die Frage nach Alternativen – könnten Sie sich etwa im Medienbereich allgemein bewerben? Weil der Medienmarkt in Berlin gesättigt ist, müsste man in Betracht ziehen, ob Sie sich im gesamten Bundesgebiet zur Verfügung stellen sollten.

Oh je! Würden Sie uns vielleicht in eine PR-Agentur schicken?

Ich würde Sie nicht zwingen. Nur wenn Sie für eine PR-Agentur bereit sind, würde ich sie Ihnen empfehlen. Wer nicht die Bereitschaft für eine Stelle mitbringt, schadet sich und stiehlt dem Arbeitgeber die Zeit. Außerdem würde die Arbeitsagentur als Vermittler in diesem Fall kaum erfolgreich sein.

Nehmen wir weiter an, es hat alles nichts genützt. Nun stehen wir vor der Entscheidung: sich selbstständig machen oder Hartz IV. Ihr Tipp?

Wenn Ihr Konzept auf Selbstständigkeit Aussicht auf Erfolg hätte, würde ich Sie darin unterstützen.

Gestatten Sie uns die Frage, Herr Seutemann: Kennen Sie Arbeitslosigkeit nur von Ihrer Kundschaft? Oder haben Sie die Erfahrung selbst einmal gemacht?

Ja, ich kenne die Situation. Ich war nach meinem Studium arbeitslos, und diese Erfahrung hat mich auch geprägt. Allerdings ist die damalige Arbeitslosigkeit mit heute nicht zu vergleichen. Als ich arbeitslos war, lag die bundesweite Arbeitslosenquote bei 0,8 Prozent; in meinem Heimatbezirk in Göttingen betrug sie 3,5 Prozent. Aber die Rituale einer Arbeitslosmeldung – wer ist zuständig und welche Formulare sind auszufüllen – habe ich mitgemacht.

Fühlten Sie sich als Bittsteller?

Nein. Aber die damalige Situation war auch eine andere: Ich habe Bewerbungen geschrieben und überall – in der Privatwirtschaft wie in der öffentlichen Verwaltung – Zusagen bekommen.

Heute gibt es kaum noch Zusagen, dafür umso mehr Ablehnungen. Was bedeutet das für Sie? Berührt Sie das?

Wenn man 30 Jahre mit Arbeitslosigkeit zu tun hat, sind die Emotionen weg, was die administrativen Prozesse angeht. Aber persönliche Schicksale berühren mich jedes Mal. Und man fragt sich: Kann man helfen?

Viele Arbeitslose, kaum Stellen: Da ist nicht allzu viel zu helfen. Vor allem nicht in Berlin und Brandenburg.

Einen Königsweg gibt es nicht. Wenn, dann ginge er in die Richtung: Alle müssen etwas abgeben, damit andere etwas bekommen können. Und wir müssten uns von der Vorstellung verabschieden, dass wir uns immer nur in Richtung Wachstum bewegen, das die privaten Einkommen ansteigen lässt.

Was unterscheidet die Region Berlin-Brandenburg von Hamburg/Schleswig-Holstein, wo Sie vorher tätig waren?

Berlin-Brandenburg hat einen ganz anderen Arbeitsmarkt. Hamburg konnte sich in 40 Jahren auf eine sich verändernde Wirtschaftsstruktur einstellen, Berlin – und zwar sowohl West- als auch Ostberlin – hatte sich auf eine konservierende Struktur eingerichtet. Mit der Wiedervereinigung brachen rasch die Subventionen weg, und die Berlinförderung ist zu schnell abgebaut worden. In beiden Stadthälften reduzierte sich durch die wirtschaftlichen Veränderungen hauptsächlich das verarbeitende Gewerbe. Dadurch gingen zahlreiche Arbeitsplätze verloren, vor allem für un- und angelernte Beschäftigte. Diese Veränderungsprozesse dauerten in Hamburg viel länger.

Eigentlich sind Sie nicht zu beneiden: Sie müssen auslöffeln, was andernorts eingebrockt wird. Würden Sie gern auch mal mitmischen? In der Wirtschaftspolitik zum Beispiel?

Ich gehöre zu einer Organisationseinheit, deren Funktion darin besteht, der Reparaturbetrieb der Marktwirtschaft zu sein. Meinen Glauben an die Gestaltbarkeit von regionaler Wirtschaftspolitik habe ich ein bisschen verloren. Bei wirtschaftlichen Investitionen geht es um schlichte ökonomische Interessen, die gegeneinander abgewogen werden.

Warum waren die Großansiedlungen in Sachsen erfolgreich, in der Region aber nur selten? Die Chipfabrik in Frankfurt (Oder) ist ja nur ein Beispiel.

Ein Rolle spielen beispielsweise Standorterwägungen. In Sachsen gab es aber auch eine lange Tradition im Fahrzeugbau, die heute wieder Firmen anzieht. Auch in Berlin und Brandenburg gibt es solche Traditionen, etwa die Luftfahrtbranche im Süden Berlins, die sich gut entwickelt.

Und die Politik?

In Sachsen ging die Wirtschaftspolitik eher in Richtung Unterstützung des vorhandenen Potenzials, weniger in Richtung Förderung der Ansiedlung um jeden Preis.

Vielleicht sind die sächsischen Arbeitskräfte ja auch motivierter und besser als die in Berlin und Brandenburg?

Nein, hier in der Region gibt es genauso viel Elan. Sachsen besteht ja nicht nur aus Dresden und Leipzig, sondern auch aus dem Erzgebirge, Bautzen und Görlitz. Insgesamt haben Berlin und Sachsen eine ähnlich hohe Arbeitslosenquote.

Herr Seutemann, was bedeutet für Sie ganz persönlich das Wort Arbeit?

Arbeit ist auf der einen Seite Selbstbestätigung, auf der anderen Broterwerb. Und Arbeit ist Wertschöpfung.

Muss das immer Lohnarbeit sein?

Nein. Ich bin immer dafür eingetreten, dass das Ehrenamt wieder eine andere Bedeutung in der Gesellschaft bekommt. Ehrenamtliche Aufgaben könnten gerade für die Menschen erfüllend sein, die auf dem Arbeitsmarkt keine Stelle mehr finden.

Nehmen wir ein Beispiel: Ein 55-jähriger Bauarbeiter findet keinen Job und geht nach einem Jahr Arbeitslosigkeit ins Arbeitslosengeld II. In seinem Neuköllner Fußballverein wird er – ehrenamtlich – Nachwuchstrainer. Sind für diesen Mann 345 Euro pro Monat angemessen angesichts der gesellschaftlichen Arbeit, die er leistet?

Zu den 345 Euro kommen noch die Kosten der Unterkunft, er würde – je nach Mietkosten – also rund 600 bis 700 Euro im Monat Einkommen erzielen. Es ist ein richtiger Ansatz, dass derjenige, der von der Gesellschaft unterstützt wird, sich als Gegenleistung gesellschaftlich einbringt.

Würden Sie sich wünschen, dass dieser Bauarbeiter ein Grundeinkommen von 800 bis 900 Euro bekommt. Damit würde er den Arbeitsmarkt entlasten und gewänne eine Sicherheit, sich gesellschaftlich einzubringen.

Eine höhere Grundsicherung für die Menschen wünschte ich mir schon. Die entscheidende Frage ist aber: Sind die Steuereinnahmen da, um solche Grundsicherungsmodelle zu finanzieren? Wir müssen uns fragen, ob wir das Geld dafür haben – ich glaube, da bleibt es schon beim Wunsch. Außerdem muss für Geringverdiener noch der Anreiz bestehen, eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufzunehmen. In der augenblicklichen Situation sehe ich wenig Spielraum, zusätzliche Leistungen zu erbringen.

Warum?

Wir müssten entweder die Steuern erhöhen, was zur Verlagerung von Arbeitsplätzen in der globalisierten Welt führt, oder höhere Schulden aufnehmen. Damit würde sich die heutige Erwerbsgeneration jetzt schon von ihren Kindern ernähren. Wir müssen mit dem, was wir haben, vernünftig haushalten.

Ist Hartz IV dafür der richtige Weg?

Hartz IV ist der richtige Weg zu mehr Ehrlichkeit in der Arbeitsmarktpolitik. Jetzt wird in der Arbeitslosenversicherung zwischen den Beitragseinkommen und den Steuereinkommen getrennt. Für den Personenkreis der Langzeitarbeitslosen ist jetzt erkennbar, dass die Gesamtgesellschaft verantwortlich ist – und nicht nur die Beitragszahler.

Was versprechen Sie sich davon?

Die Gesellschaft wird sich nun verstärkt mit diesen Problemen auseinander setzen. In den 90er-Jahren wurde das Problem Arbeitslosigkeit mit der Mischfinanzierung aus Beitrags- und Steuermitteln verwaschen; es entstand sogar der Eindruck, dass die Arbeitslosigkeit ein Problem der Arbeitsämter sei. Die Arbeitslosigkeit ist aber ein Problem der Gesamtgesellschaft, und das muss sich auch in der Finanzierung darstellen.

Welche Perspektiven haben die Berliner Langzeitarbeitslosen?

Das Hauptproblem ist die hohe Unterbeschäftigungsquote. Uns fehlen massiv Stellen am ersten, am wettbewerbsbestimmten Arbeitsmarkt. Da müsste angesetzt werden. Durch Hartz IV verbessern wir auch die Betreuung der Langzeitarbeitslosen. Bei den jungen Arbeitslosen wird künftig ein Vermittler 75 Betroffene betreuen. Im Augenblick liegt das Betreuungsverhältnis in unserer Region bei 1 zu 460. Die Verbesserung der Vermittlung wird dazu führen, einen Teil der Jugendlichen zielgerichteter auf eine Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt vorzubereiten.

Was wären das für Tätigkeiten? Fast jeder zweite Bewerber gilt in Berlin als nicht ausbildungsfähig.

Die Bildungsträger müssen künftig ihre Maßnahmen noch zielgerichteter auf diesen Personenkreis ausrichten. Und wir werden für die nicht Ausbildbaren Arbeitsgelegenheiten mit Weiterbildungsmöglichkeiten entwickeln, um sie im Bereich der Un- und Angelernten fit zu machen. Allerdings wird der Anteil solcher Jobs weiter zurückgehen.

Ihre Wünsche für 2005? Wann wäre dieses Jahr ein erfolgreiches?

Wenn die Verbesserung der Betreuung der Arbeitssuchenden ein sich ständig perfektionierender Prozess wird, können wir zufrieden sein. Und wenn wir im Arbeitslosengeld-I- und im Arbeitslosengeld-II-Bereich schneller Arbeit vermitteln können. Dann wäre im ersten Jahr der Reform viel gewonnen.

Und die Situation am Arbeitsmarkt?

In diesem Jahr werden wir ähnliche Verhältnisse am Arbeitsmarkt haben wie im vergangenen. Ich sehe keine entscheidende Verbesserung in der Beschäftigungssituation – und zwar in Berlin und Brandenburg sowie in ganz Deutschland. Die Probleme am Arbeitsmarkt können wir nur durch zusätzliche Beschäftigung in den Betrieben lösen, nicht durch öffentlich geförderte Beschäftigung.

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