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Die Stahlarbeiter

Irokesen vom Stamm der Mohawks im kanadischen Kahnawake bauen die Wolkenkratzer von New York. Sie führen ein Leben zwischen den Extremen

VON MICHAEL MAGERCORD

Es begann 1866. Ein Pfeiler der Eisenbahnbrücke über den kanadischen St.-Lorenz-Strom sollte im Reservat von Kahnawake stehen. Die Mohawks handelten aus, am Bau beschäftigt zu werden, und entdeckten ihre besondere Fähigkeit zur Arbeit in großer Höhe. Bis heute ziehen junge Mohawks in die USA und errichten Hochhäuser – wie auch vor zwanzig Jahren der damals 16-jährige Stuart Myiow: „Wenn man auf einem Wolkenkratzer steht, dann sieht man das Ganze und erkennt: Städte sind dazu da, deine Seele zu verwirren“, sagt Stuart, der 1999 wieder nach Kahnawake zurückgekehrt ist und seither, wie er beschwört, das Reservat nicht länger als für ein paar Tage verlassen hat.

Ich kam aus der Stadt und war verwirrt. Der Bus hat nicht gehalten auf seinem Weg in die südlichen Vororte von Montréal. 8.000 Irokesen vom Stamm der Mohawks leben im Reservat, und dem Busfahrer muss man sagen, dass er anhalten soll. Aber wo? An den Baracken mit den Aufschriften: „Indian Smoke Shop, Zigaretten steuerfrei“? Oder an der „Mohawk-Bingohalle“? Besser an der Autobahnabfahrt. Und dann? Schöne Häuser, große Gärten, gewundene Wege – ist das Reservat ein Dorf? Von Stahlarbeit keine Spur, das höchste Gebäude ist eine Kirche. Es ist eine katholische Kathedrale, gewidmet einer indianischen Heiligen. Im Pfarrhaus ist ein Museum, und Sandra Beauvais, die hier die Eintrittskarten verkauft, sagt „Mmh“ und gesteht: „So genau kenn ich mich auch nicht aus, ich bin in New York aufgewachsen.“

Statt alter Historie über den ersten christianisierten Stamm der Irokesen, der vor heidnischen Indianern nach Norden floh und schließlich 1716 von Jesuiten im ältesten Reservat Nordamerikas angesiedelt wurde, erzählt Sandra von der jüngsten Geschichte, ihrer Geschichte. Vierhundert Familien aus Kahnawake hatten bis in den 60er-Jahren in der Downtown des New Yorker Stadtteils Brooklyn gelebt, es gab indianische Geschäfte, Kirchengemeinden und eine Kneipe. Doch in der Schule meinten Sandras Klassenkameraden, sie sei Italienerin, aus Puerto Rico, Syrien, Griechenland – keiner erkannte sie als Indianerin. „Sie glaubten wohl, wir sind alle tot.“ Sandra heiratete 1956 einen Mohawk, einen Stahlhochbauer. Drei Söhne bekamen sie, dann sagte ihr Mann: Ich baue für euch ein Haus im Reservat.

Fast alle Familien sind wieder zurückgekehrt nach Kahnawake. „Trotzdem wäre ich jederzeit zurückgegangen, ich liebe New York“, sagt Sandra. „Außerdem sollten meine Söhne eine gute Ausbildung bekommen, im Reservat sind die Jungen diesem starken Einfluss ausgesetzt, Stahlhochbauer zu werden.“ Ihre Söhne arbeiteten gerade irgendwo am Hudson, natürlich im Stahlhochbau.

Geh doch mal zum Friedhof, hatte Sandra noch gesagt. Das Portal aus Stahlträgern, oben ein Kreuz aus Stahlträgern, und Gräber mit Kreuzen aus Stahlträgern. „So eines hätte ich auch fast gekriegt“, meint George Gilbert, der das schlichte Grab seiner Eltern besucht. Ein Stahlkreuz bekommt, wer bei der Stahlarbeit umgekommen ist. George war seit seinem 16. Lebensjahr Connector, Nieter, einer von denen, die zuerst nach ganz oben steigen und immer den jeweils höchsten Stahlträger vernieten. Und Nieter, sagt er, seien eine eigene Brut, ob Weiße, Schwarze, Rote, es sind Typen, die ihre Grenzen testen. Und sie sind Süchtige. „Macht Höhe abhängig?“ – „Ja, das ist es! Wenn ich auf dem höchsten Punkt stehe, nichts mehr über mir sehe, fühle ich mich wie ein Krieger, der auf der Spitze der Welt steht.“

Dann aber dieser Tag im Jahr 1999. George stürzte, nur wenige Meter zwar, doch der Sturz war ein Weckruf. Seitdem lebt der 52-Jährige wieder im Reservat. Jetzt lehrt er an der Reservatschule Ganahaga, die Sprache der Mohawks, die er als einer der wenigen noch fließend spricht. Dieses alte Wissen weiterzugeben ist nun sein „neuer Horizont“.

Ein Auto fährt heran, Nummernschild aus Montréal, die Fahrerin fragt auf Französisch: „Wo sind hier denn die Indianer?“ An der Autobahn, in einer übergroßen Blockhütte. Es ist das „5-Nations Iroquoian Village“, wo es Bücher, Handwerk, Souvenirs gibt. Darin trägt Ray Deer noch Häuptlingstracht. Einmal am Tag, wenn er den Durchreisenden alte Zeremonientänze zeigt. Die hat er in Heidelberg gelernt, in der US-Armee.

Die Mohawks von Kahnawake sind weder US-Bürger noch Kanadier, doch als nordamerikanische Ureinwohner können sie in der US-Armee dienen. Rays Vater war Stahlhochbauer, entfernte Rost und alte Farbe von Brücken. Er starb mit 41 Jahren. Auf dem Sterbebett nötigte er seinem Sohn das Versprechen ab, kein Stahlhochbauer zu werden. Ray ging in die US-Armee, blieb 21 Jahre, trat US Army Native American Clubs bei und lernte tanzen. Nun ist der 45-Jährige Rentner. „Im Reservat kann ich von meiner kleinen Pension leben. Aber draußen? Da müsste ich etwas anderes finden, und das wäre bestimmt nicht das Tanzen.“

In der Armee hatte Ray seinen weißen Kameraden immer wieder Vorträge gehalten: „Ihr wollt, dass ich Amerikaner oder Kanadier werde, denn ich soll Steuern zahlen wie ihr, nur damit mein Leben genauso hart wird wie eures.“ Die Weißen wollen, dass alle gleich sind, dass sie so sind wie sie selbst. Ureinwohner haben aber nicht die gleichen Chancen. Hochschulbildung durfte man nur genießen, wenn man US-Bürger oder Kanadier wurde. Das wollte niemand. „Was bleibt?“, fragt Ray und erwartet keine Antwort.

Achte doch mal auf die vielen US-Flaggen an den Häusern und in den Gärten, hatte Ray gesagt, alle Veteranen oder Stahlarbeiter. „Stahlarbeit hat hier alles bestimmt, sogar unsere Sprache“, sagt auch Ross Montour, Reporter der englischsprachigen Wochenzeitung Eastern Door. Ross war Stahlarbeiter als Jugendlicher. „Aber es ist nicht gut, auf Wolkenkratzern zu stehen oder Brücken zu streichen.“ Trotzdem wollen es viele junge Mohawks immer noch machen. Warum? Wegen des Unterbewusstseins. Früher gingen die Männer auf die Jagd, die Frauen besaßen die Felder und vererbten sie an ihre Töchter. Die Stahlarbeit passe genau in diese kulturelle Schablone: „Sie ist aufregend, Mut gehört dazu, die Beute, der Lohn, ist groß, und die Frauen bleiben zu Hause, die Männer ziehen umher.“ Zwar entsprach der Drang nach oben der Kultur der Mohawks, aber er zerstörte zugleich deren Basis, die Sprache und die Gebräuche. „Was müssen wir jetzt tun, um nicht völlig in die Mainstream-Kultur eingesogen zu werden und nur noch rote Weiße zu sein?“, fragt Ross und zuckt mit den Schultern.

Ich stehe mit Stuart Myiow auf seinem Turm im Reservat, eigens errichtet, um Montréal, die Stadt, stets vor Augen zu haben. Von oben sieht man nicht nur Wolkenkratzer, man sieht die riesige Brücke über den St.-Lorenz-Strom und im Süden eine wuchernde Vorstadt mit immer gleichen Häusern auf quadratischen Parzellen und Shopping-Centern. Dazwischen das weitläufige Autobahnnetz, Karosserien blitzen im Abendlicht. „Das tägliche Rattenrennen“, sagt Stuart.

Die Weißen, erklärt er, hätten die Lebensweise der Ureinwohner nie verstanden. „Wir glauben, dass wir stetig die Knochen unserer Ahnen auf dem Rücken tragen. Wir müssen unsere Vorfahren ehren und achten deshalb auch auf jene, deren Gesichter, wie wir sagen, noch der Erde zugewandt sind.“ Nur wenn man auch an die Menschen denke, die sich nicht mehr oder noch nicht in der gegenwärtigen Welt befinden, ist eine Gesellschaft auch in der Lage, etwas, was zwar möglich ist, aber für einen einzigen Menschen schlecht wäre, zu unterlassen. „Und nur dieses Unterlassen kann die Freiheit des Einzelnen noch bewahren. Und allein die Bewahrung dieser Freiheit kann unsere Erde noch bewahren.“

Stuarts Haus steht am Rand des Reservats, ein Holzbau, ein Lagerfeuerplatz davor, eine volle Garage, aus dem ein Kanu hervorlugt. Irgendwo wiehert ein Pony … Natürlich, überleben müsse auch er. Er sei dazu gezwungen, sagt Stuart, den Unternehmergeist seiner Vorfahren zu nutzen. Er betreibt ein kleines Umzugsgeschäft und lässt Besucher bei sich übernachten. „Was unsere Gäste erleben, sind traditionsbewusste Menschen, die in einer modernen Welt zurechtkommen müssen.“ Und jedes Mal führt er sie hinauf auf seinen Ausguck. „Unser Leben ist ein Seiltanz“, sagt Stuart, „denn wir befinden uns hier im Brennpunkt der Konfrontation zwischen der modernen und einer traditionellen Welt“, und das sieht man nun mal am besten von ganz oben, mit den Wolkenkratzern im Blick.

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