: Auschwitz ist mehr als Geschichte
Der Spandauer Willi Frohwein war fast zwei Jahre im Konzentrationslager Auschwitz inhaftiert. Vor Schülern schildert der 81-Jährige das Grauen jener Zeit: Ein erfolgreicher Monolog der Generationen
VON PHILIPP GESSLER
Haben wir nicht schon alles gesehen, gelesen, gehört? Von Auschwitz: die Leichenberge und die Haufen von Gebissen und Brillen. Die Erinnerungen der Zeitzeugen, die das Grauen auf Papier zu bannen versuchen, in Buchstaben und Bildern, solange sie noch können. Schließlich die Berichte der Überlebenden, die mehr oder weniger unbeholfen vor Publikum ihr Leid beschreiben – und ihr Glück, ihr Unglück, überlebt zu haben, warum auch immer, wozu auch immer. Warum sollten wir noch einmal Willi Frohwein zuhören?
Vielleicht weil Frohwein noch da ist und erzählen kann. Vielleicht weil dem 81-Jährigen aller Voraussicht nach nicht mehr sehr viele Jahre bleiben werden für dieses Erzählen, zehn Jahre vielleicht, zwanzig wohl kaum, dreißig wahrscheinlich nicht mehr. Und weil dann die letzten Menschen gestorben sein werden, die wie er Schülerinnen und Schülern in die Augen schauen können mit nur einer Aussage: Ja, es gab Auschwitz, ich war da, das ist mehr als Geschichte. Nur Menschen, keine Bücher oder Bilder, können die Herzen anderer Menschen öffnen, wie es Frohwein gelingt an diesem Mittwochmorgen in der Fachschule für Sozialpädagogik an der Bismarckstraße.
Frohwein wurde in Spandau geboren. „Die Spandauer sind die besten Berliner“ ist sein Credo, und das sei hier erwähnt, denn er berlinert, dass es eine Lust ist. Eine fast kumpelhafte Atmosphäre kommt auf. Dazu der Wortwitz und die typische Sprücheklopferei vieler Berliner seiner Generation („Det is jetzt meine Gehirnprothese“, sagt er, als er seine Notizen auspackt): So verringert sich die Distanz, die sonst aufkommen kann, wenn ein alter Mann von über 80 Jahren mit 18- bis 20-jährigen Menschen reden soll, die nicht mehr seine Sprache sprechen.
Aber es ist still, solange er redet. Fast alle jungen Frauen und Männer hängen an seinen Lippen. Mehr als zwei Stunden sind es, die Willi Frohwein mit seinem Lebensbericht füllt, dort vorne am Lehrerpult sitzend, auf das jemand eine Vase mit einer langstieligen weißen Rose platziert hat. Es soll gastlich wirken. Ein Schüler ist kurz weggenickt in einer hinteren Reihe während der zweiten Stunde von Frohweins Bericht, ob mit Absicht oder nicht. Frohwein bekommt das nicht mit oder lässt es sich nicht anmerken. Mit Schülern komme er immer gut zurecht, meint er später. Nur bei manchen Lehrern frage er sich, ob die sich eigentlich für das interessierten, was er zu erzählen habe.
Wie gelingt es Frohwein, seine jungen Zuhörer zu fesseln mit einer Geschichte, die so weit weg ist? Die bekannt scheint und die manche gar nicht mehr hören wollen? Frohwein zieht Parallelen zu heute, etwa wenn er berichtet, wie die Nazis damals in Spandau gleich um die Ecke immer in Überzahl gegen einzelne Kommunisten losgingen: „Die haben auch ’ne Tradition: In Gruppen sind se stark.“
Katholisch getauft
Frohweins Vater war Jude, aber zum Katholizismus konvertiert vor dessen Geburt. Auch Willi Frohwein war katholisch getauft, er ging auf eine katholische Schule – und fiel aus allen Wolken, als er plötzlich zum Außenseiter wurde. Das war, als die Nachricht über die jüdische Herkunft seines Vaters im Herbst 1935 unter den Schülern kursierte. Die hänselten den „Halbjuden“ nun mit Sprüchen wie „Halb und halb ist auch eene“.
Bei den katholischen Pfadfindern, mit denen er so gern Lieder sang („war unsere Disco, wa?“), flog Frohwein nicht raus – sie wurden verboten. Der „größte Schock“ aber war, dass er als „Mischling 1. Grades“ keine Lehrstelle mehr bekam. Immerhin, mit Glück konnte er eine Ausbildung als „Wäscher und Plätter“ anfangen – „der Traumberuf aller Jungen“, witzelt Frohwein. Seltsamerweise war sein Chef ein Parteigenosse, der von seinem jüdischstämmigen Vater wusste. Dennoch konnte er bei dem Nazi weiter arbeiten. Eine Nachbarin, die nicht in der Partei war, musste dagegen allen Leuten erzählen, dass die Frohweins ja irgendwie eine jüdische Familie seien. Bald wöchentlich kam die Gestapo vorbei und machte Hausdurchsuchungen. Bald waren sie isoliert. Kaum jemand kam noch vorbei.
Dann die „Kristallnacht“ 1938, die Frohwein miterlebte: die Synagoge in Spandau, die abbrannte. Die Feuerwehr schützte nur die Nachbarhäuser – „auf die Synagoge ist nicht ein Tropfen Wasser gefallen“. Das Kurzwarengeschäft eines Juden, das unter den Augen der Polizei von braven Bürgern geplündert wurde – „koofen dürft ihr nicht, aber klauen“, schoss es Frohwein in den Kopf. Im Betrieb brach er zusammen, erlitt einen Weinkrampf: „Ick hab abends noch geheult.“ Man ließ ihn an diesem Tag in Ruhe, behandelte ihn wie ein rohes Ei. Vielleicht fesseln Frohweins Geschichten so, weil die Menschen darin selten ganz böse, selten nur gut sind.
Im Jahr 1942 wurde Willi Frohwein dann zwangsverpflichtet, in einem Rüstungsbetrieb zu arbeiten. Das war ein gewisses Glück, weil „die jüdischen Leidensgenossen“ in der Nachbarschaft in dieser Zeit „nach Oberschlesien“ deportiert wurden, wie es hieß, ohne dass man genau wusste, was da passierte, erzählt Frohwein. Zwei oder drei Wochen später aber kamen dann immer die Nachrichten, dass die Deportierten leider an Herzversagen oder Lungenentzündung verstorben seien. Frohwein zog seine Schlüsse. Er betrieb Sabotage im Rüstungsbetrieb, ein lebensgefährliches Vergehen. Er ahnte: „Jeden Tag, den die schneller gewinnen, wird dein Leben kürzer.“ Weil Frohwein so viel Ausschuss produzierte, machte sein Chef Druck – „dann biste den Schädel los, den wollt ick aber noch ’n bisschen behalten“, sagt er.
Im Juni 1942 entschloss er sich zur Flucht aus Deutschland, er wollte in die Schweiz. In Konstanz versuchte Willi Frohwein sein Glück, dann in Lustenau. Die Fluchtgeschichte gerät in der Schulklasse etwas lang, Frohwein drückt aufs Tempo, als er merkt, dass die Konzentration bei den Schülerinnen und Schülern abnimmt.
„Wegen Passvergehen und Arbeitsvertragsbruch“ wurde Frohwein nach dem missglückten Fluchtversuch für ein halbes Jahr, die meiste Zeit in Graz, inhaftiert. Nach seiner Entlassung kehrte er nach Berlin zurück. Hier musste er vier Wochen in einem Arbeitslager in der Wuhlheide arbeiten, ehe er im April 1943 zu einem Transport aufgerufen wurde. „Nach Oberschlesien!“, ruft Frohwein im Klassenzimmer, „das war doch die Gegend, wo die Leute so schnell gestorben sind.“ Schon im Zug sagte jemand zu den Gefangenen: „Ihr Juden braucht euch gar nicht einbilden, dass ihr älter als 14 Tage werdet in Auschwitz.“ Es war das erste Mal, dass er den Namen Auschwitz hörte.
„Wollt ihr ’ne Pause machen?“, fragt Frohwein die Schüler. Nein, bedeuten sie ihm. Frohwein krempelt seinen linken Ärmel hoch, er zeigt seine eintätowierte Auschwitz-Nummer 122785. Ein paar Fotos und amtliche Schreiben in Kopie hat er mitgebracht. Neben der Nummer sind dies die einzigen Zeugen der Haft. Frohwein hat schon viele Vorträge vor Klassen gehalten. Er weiß, dass seine Erzählung allein zu trocken sein könnte. Auch Auschwitz-Überlebende entwickeln eine gewisse Routine im Erzählen.
In Auschwitz freundete sich Frohwein mit einem Wiener Komponisten an, der als Intellektueller von den Aufsehern besonders schikaniert wurde: Er musste seinen eigenen Urin trinken, erzählt Frohwein – „iiiih“, entfährt es einigen in der Klasse. Es ist fast die einzig wahrnehmbare Reaktion auf seine Geschichte. Frohwein musste in einem Strafkommando des IG-Farben-Werks Auschwitz-Monowitz im Dauerlauf Betonsäcke schleppen, zwölf Stunden am Tag. Das wenige Essen und die schwere Arbeit ließen ihn auf etwa 40 Kilo abmagern, die Säcke wogen 50 Kilo. Sich um seinen Wiener Freund zu kümmern, hielt ihn am Leben, meint Frohwein: „Dann hat man für seine Sorgen nicht so viel Zeit.“
Lebenswille gebrochen
Als aber dieser einzige Freund im Lager Selbstmord am Lagerzaun verübte, war Frohweins Lebenswille fast gebrochen. Er wurde krank, kam in den „Schonblock“ – und wusste, dass er da so schnell wie möglich rausmusste, denn wer zu lange krank war, kam ins Gas. Zweimal stand er nach Selektionen schon auf einem Laster, um zur Gaskammer gefahren zu werden. Zweimal wurde seine Nummer 122785, sein Name im Lager, aufgerufen: Er solle absteigen.
Das zweifache Wunder hatte seinen Grund, wie Frohwein später erfuhr: Seine Mutter hatte an den Lagerkommandanten geschrieben, dass Willis Bruder als Soldat für Volk und Vaterland gestorben war – er war in einem Strafbataillon, einem Minenräumkommando, zu Tode gekommen. Die Lageroberen wussten nicht, wie sie mit Frohwein umgehen sollten: War er nun ein „Jude“ oder ein „Deutscher“? Man entschied sich für „Deutscher“. Das rettete ihm das Leben.
Mit Hartnäckigkeit und Glück gelang es Frohwein schließlich, in der neuen Wäscherei des Lagers zu arbeiten – er kannte sich ja aus mit den Maschinen. Dort war es warm, er konnte Wäsche von der SS verschwinden lassen und gegen Brot tauschen, das er Hungernden gab. So überlebte er bis zum 18. Januar 1945, als das Lager wegen der heranrückenden sowjetischen Front geräumt wurde. Frohwein kam auf einen Todesmarsch. Auch den überstand er. Dann wurde er mit anderen Überlebenden bei klirrender Kälte in offenen Kohlenwaggons durch halb Deutschland ins KZ Mittelbau-Dora bei Nordhausen transportiert. Hier mussten die Häftlinge in Stollen die Raketen V 1 und V 2 herstellen.
Am 6. April 1945 wurde Frohwein schließlich ins KZ Bergen-Belsen gebracht, kurz vor der Befreiung von Mittelbau-Dora durch die US-Truppen. Er war so abgemagert, dass ihm das Herumliegen dort auf einem Holzfußboden „wie ein Schweben“ vorkam. Dergestalt tatsächlich zwischen Tod und Leben schwebend, realisierte er kaum, dass nach wenigen Tagen das Lager befreit wurde. „Die SS-Leute fielen vor irgendeinem anderen Mann auf die Knie“, erzählt Frohwein. „Ick hab jedacht, det is ’n Pfarrer, ick bin ja katholisch.“ Er hatte überlebt, aber freuen konnte er sich nicht: „Freude – war ich gar nich fähig dazu.“
Die Zeit danach beschreibt Frohwein nur noch kursorisch: „Gibt’s noch Fragen? Stellt sie ruhig“, fordert er die Schülerinnen und Schüler auf – aber alle scheinen geschafft und bewegt von der Erzählung, es kommen keine Fragen. Frohwein bittet sie, „mich in bester Erinnerung zu halten – det is ja auch schon wat“. Dann ist das Zeitzeugengespräch beendet, der Bericht über etwas, von dem wir alles schon gesehen, gelesen und gehört zu haben glauben. Eine junge Frau geht noch kurz zu ihm. Sie gibt ihm die Hand und bedankt sich. Zu mehr scheinen ihr die Worte zu fehlen. Ihre Augen sind feucht. Und dann macht sie etwas, das aussieht wie ein Knicks.
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