piwik no script img

Kein schöner Land

Strandpromenaden und Bergsilhouetten, Stadtansichten und Tierporträts – über 100 Millionen Ansichtskarten werden jährlich aus deutschen Landen verschickt: Die kleine Idylle auf Papier

VON JAN FREITAG

Wo bitte ist Undeloh? Selbst viele Heimatkundige dürften von dem niedersächsischen Dorf erst erfahren, wenn sie Post kriegen. „Perle der Heide“ könnte dann auf der bonbonfarbenen Frontseite stehen, ein handschriftlicher Wetter- und Stimmungsbericht auf der Rückseite. Oder „Gruß aus Undeloh“, vorn gesäumt mit Heidschnucken, hinten mit ein paar Zeilen aus den Ferien. Gäbe es die Ansichtskarte nicht, Undeloh wäre wohl keinem bekannt, der nicht bereits dort war.

Aber es gibt sie. Seit 1869 in Deutschland und ein paar Jahre später auf der ganzen Welt. Es gibt sie mit Strandpromenaden und Bergsilhouetten, Stadtpanoramen und Landfacetten, mit Burgen, Kindern, Panzern, Tieren, Sprüchen, Blumen, Comics oder Todesstreifen. Es gibt sie zu Milliarden, doch nirgends gibt es wohl mehr als in einem neonbeleuchteten Lager in Lübeck.

„Deutschland ist schön – wir zeigen es.“ Wenn Wolfgang Hesse im Depot das Motto des Schöning-Verlags aufsagt, muss er in einen der unzähligen Kartons mit jeweils 1.000 Exemplaren gedruckter Urlaubsgrüße greifen, um für Atmosphäre zu sorgen. „Wir verkaufen Freude“, beteuert der Geschäftsführer und zeigt auf 20 Regalmeter Hamburg im Hochglanzformat. Dass in Deutschland gerade eher Tristesse herrscht – bei Schöning könnte man es glatt vergessen. Hier ist das Meer noch klar, der Himmel blau, die Beete gepflegt und die Laune prächtig.

„Postkarten sind moderne Bildmärchen“, befindet die Historikerin Verena Winiwarter, und in den doppelstöckigen Regalreihen des Marktführers werden sie am häufigsten erzählt. Etwa jede zweite Ansichtskarte, die in deutschen Postkästen landet, stammt aus dem Lübecker Verlag. 35.000 Motive hat Schöning im Sortiment. „Grüße aus Mainz“, „Schönes Gifhorn“, „Zeppelinstadt Friedrichshafen“: Auf den Druckbögen werden räumliche Distanzen zu direkter Nachbarschaft. Und das Umfeld des Firmensitzes gäbe mit schmiedeeisernen Laternen in akkuraten Vorgärten selbst eine schmucke Postkarte.

„Hier bin ich, so sieht’s hier aus“, umreißt Hesse das Credo der Karte im Weltpostkartenformat WPK. Kaum ein Platz, der sich nicht auf 105 mal 148 Millimeter pressen ließe, kein noch so öder Ort, der nicht das Zeug zum zweidimensionalen Sightseeing hätte. Nicht aber Bitterfeld, der Chemiemoloch. Das, bedauert Hesse, „haben wir gar nicht erst versucht“. Er blickt zur großen Karte im Büro. In 85 Touristengebiete teilt Schöning die Nation auf. In geballte wie Hamburg, Berlin, das Rheinland, den Hochschwarzwald oder in flächige wie die Mark Brandenburg. „Der Osten ist unsere Problemzone“, meint Hesse. Nach der Wende sorgten reisebefreite Ossis für Rekordabsätze von fast 100 Millionen Karten im Jahr, kaum weniger, als heute insgesamt verschickt werden. Mittlerweile läuft nur noch knapp die Hälfte vom Lübecker Band. Auch, weil 2 Millionen Stück mit den Grenzanlagen wegfielen. Oder weil Schwedt und Schmalkalden nun mal keine Ferienzentren sind. Mindestens eine der berühmten Acht-Feld-Karten zeigen den Grenzort nahe Polen oder die thüringische Kleinstadt dennoch. Von Sachsen-Anhalt oder Brandenburg wurden dagegen Millionen geschreddert.

Dabei war der Osten – Preußen, Pommern, Schlesien – einst Schönings Kerngebiet. Vor dem Weltkrieg, als jede größere Stadt, jede Region ihren Postkartenverlag hatte. Wer heute nicht spurlos verschwunden ist, den hat Schöning aufgekauft. „Unterrepräsentiert sind wir nur in Bayern“, protzt Wolfgang Hesse. Und dank der lukrativen Lizenz für die Schwarzwaldklinik ist die Region rund um Brinkmanns OP gar eine Domäne der Lübecker. Das folgt Hesses Philosophie: „Wir müssen da sein, wo der Tourismus ist.“ Und er ist nun mal dort, wo es die Leute am schönsten finden. Ist es das nicht, wird nachgeholfen. Ebenso wichtig wie die jährlich 5.000 neuen Fotos ist – im Gründungsjahr 1925 wie im Zeitalter des Fotohandys – die Retusche. Ran an den Photoshop und weg mit Lkws vorm Rathaus oder Regenwolken überm Kyffhäuser. Nicht wenige der 60 Schöning-Mitarbeiter erzeugen jene Idealbilder, die laut Expertin Winiwarter als „Vermittler zwischen der örtlichen Realität und den Träumen davon“ dienen.

Das brachte Schöning einmal den nervösen Anruf eines Zoologen ein. Wo denn der badende Seehund auf Deutschlands meistverkaufter Ansichtskarte zu finden ist, wollte er wissen. Weiße Augenbrauen und Barthaare wie auf dem Motiv See 218, das auch 56 Jahre nach dem Erstdruck jährlich 30.000 Empfänger findet – habe er noch nie gesehen. Kein Wunder, in den 60ern erhielt das Schwarzweißbild per Pinsel Farbe und die Tierwelt eine neue Rasse. So geht das in der Postkartenwelt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen