: Das jüngste Gericht
Aus dem ehemaligen Kinderstar ist ein 46-jähriges Kind geworden, das Kinder missbraucht haben soll. Vor einem Gericht in Kalifornien erlebt Michael Jackson sein persönliches Armageddon: Bericht von einem kranken Prozess gegen einen Kranken
AUS SANTA MARIA HENNING KOBER
Good Morning, Los Angeles. Sechs Spuren oder acht. Rotes Lichterrasen, Wechseln, ohne zu blinken, keine Aussicht für die Augen. Montagmorgen, der Tag, an dem der Wahnsinn beginnt. Fünf Uhr in der Früh, der Hollywood Freeway Richtung Norden ist rauschend im Fluss. Gegen den Schlaf spielt „Beat it“ aus den Boxen. Michael Jacksons Platten gibt es bei Virgin für reduzierte zehn Dollar.
Schuldig oder nicht schuldig? Hat Michael Jackson eines der im kollektiven Wertesystem schlimmsten Verbrechen begangen – und kleine Jungen sexuell missbraucht? Im Gespräch mit anderen (in L. A. sprechen alle darüber) ist das eine Glaubensfrage. Im Gerichtssaal reduziert sich die Frage auf: Nachweisbar? Im Gegensatz zum Prozess gegen O. J. Simpson wird es keine Live-Bilder von der Verhandlung geben. An der Rolle des Fernsehens als Spiegel der öffentlichen Meinung wird das trotzdem nichts ändern.
Michael Jackson ist einer der bekanntesten Menschen des Planeten. In den nächsten sechs Monaten werden wir so viel Intimes aus seinem Leben erfahren wie nie zuvor. Wir werden viel über uns erfahren. Und am Ende eine sehr persönliche Antwort auf die Frage finden müssen: Was ist Wahrheit?
„Jaaaaa, die Sonne fühlt sich gut an“, sagt Christian aus Oakland, den Körper gespannt, bis die Rippen unter der bleichen Haut hervorstechen. Kameras klicken. Schnell schwingt er die Taille, einmal, zweimal. Er trägt nichts außer einer schwarzen Jeans, an den Beinen eng geschnürt. Der 19-Jährige schaut in den Himmel, fährt sich durch das dichte Rasta-Haar. „Wenn dieses Land Michael Jackson nicht ertragen kann, wird es auch für mich und meine Freunde eng. Deshalb bin ich hier. Peace.“ Es ist sein fünfzigstes Interview, „ungefähr“. Neben seiner demonstrierten Solidarität nutzt er, selbst ein „Künstler“, wie viele andere die Gelegenheit zu 15 Minuten Ruhm. Ihre Bühne in der zur „Fan Observatory Base“ umfunktionierten Miller Street ist die Welt.
Eine Armee aus Journalisten
1.100 Journalisten haben sich am vergangenen Montag zum Auftakt des Prozesses „Die Bürger Kaliforniens gegen Michael Jackson, Fall Nr. 1133603“ am Gericht von Santa Maria akkreditiert. Zeitungen und Fernsehsender bezahlen für jeden Journalisten zwischen 125 und 300 Dollar pro Tag an den Santa Barbara County. Geld, mit dem die Prozesskosten von geschätzten 2 Millionen Dollar gedeckt werden sollen. Zwei Dutzend Übertragungswagen sind um den flachen Gerichtsbau geparkt. Michael Jackson? Ist vor einer Stunde im Gebäude verschwunden. Er hat gewunken. Es wurde gekreischt. Reporter schweben für Live-Berichte auf Hebebühnen in die Luft. Auf dem Dach der gegenüberliegenden Anwaltskanzlei kann man noch „Media Space“ mieten. Die Santa Maria Times bejubelt diesen „Glücksfall“ für die einheimische Wirtschaft.
82.000 Menschen leben in Santa Maria, aus ihrem Kreis wählen Verteidiger und Staatsanwalt die zwölfköpfige Jury und acht Ersatzpersonen. Das Ortsschild verrät: Wir sind in der „All American Town“. Viele Rentner wohnen hier. Es gibt kein hohes Haus, ohne Auto bist du verloren. Die „Vanderberg Air Force Base“ ist der größte Arbeitgeber der Region. Auf dem Parkplatz vor „Rite Aid“ bittet ein unrasierter Mann um Dollars. Er sagt, er sei ein „Vietnam-Veteran“.
Hinter dem Gerichtsgebäude liegt das „Café Dion“, es ist umfunktioniert zum Pressezentrum. Kaffee, Bagels, Salat, Festivalpreise. Großes Hallo, willkommen im „Camp Michael“. Sat.1 setzt sich zu RTL. Erste Langeweile. „Drin“ sein, das ist nur einer kleinen Elite von 60 Journalisten erlaubt.
In den Zeitungen seit Tagen: Porträts der Hauptakteure. Der Richter, Rodney Melville, 63 Jahre alt, ein Republikaner, gilt als streng und fair. Er ist verheiratet, zwei Töchter, zwei Enkel. Lebt auf einer Ranch, reitet Pferde. Er will „kein zweiter Lance Ito“ werden, der Celebrity-süchtige Richter des O.-J.-Simpson-Verfahrens. Berühmt wurde Melville mit seiner Beichte im lokalen Fernsehen, mehr als 30 Jahre starker Alkoholiker gewesen zu sein.
Jacksons Verteidiger, Thomas A. Mesereau, Jr., ist 53 Jahre alt und hat früher Mike Tyson vertreten. Er ist eine überraschende Wahl, drei langjährige Jackson-Anwälte haben letztes Jahr ihr Mandat niedergelegt, zwei aus ungenannten Gründen, einer wegen einer Gehirnoperation. Der Ankläger, Tom W. Sneddon, Jr., 63 Jahre alt, ebenfalls ein Republikaner, scheiterte 1993 mit einem ersten Verfahren gegen Michael Jackson. Er hat neun Kinder, spielt Golf und engagiert sich im Jugendsportverein.
Zwei Fotografen blitzen ein Fan-Mädchen. Auf ihrem T-Shirt prangt das Bild des jungen Michael Jackson, darüber gedruckt: „100 % innocent“. So wahr Unschuld ein exklusiver Wert aller Kinder ist, so ironisch wirkt das Wort an dieser Stelle. Denn das älteste missbrauchte Kind in diesem Verfahren sitzt auf der Anklagebank.
Michael Jackson ist sieben, acht Jahre alt, als er zusammen mit seinen vier Brüdern, den Jackson Five, und Vater Joe kreuz und quer durch Amerika zieht. Joe Jackson, der als Kranführer arbeitet, nimmt jedes Engagement an. Oft sind die Bühnen Stripclubs. Bald folgen die ersten Fernsehauftritte, Amerika ist begeistert, vor allem von dem süßen jungen Michael, der schnell lernt, dass Lügen in Ordnung geht, wenn es dem Verkauf dient. „Ah … ich bin neun“, sagt der Elfjährige.
Die Legende des Jackson-Clans, erzählt von einem ehrgeizigen Vater, der seinen Familie, neun Kinder, aus dem Holzhaus in Gary, Indiana, in ein besseres Leben führen möchte. Dabei rutscht ihm manchmal die Hand aus, keine Seltenheit im Namen des amerikanischen Traums. Doch die hervorragende Fernsehdokumentation „Michael Jacksons Secret Childhood“ erzählt von einer weit gespenstischeren Realität.
Michael Jacksons erste Konfrontation mit Sexualität: die älteren Brüder, die sich mit zahlreichen Groupies im gemeinsamen Zimmer vergnügen. Auch Joe Jackson soll an diesem Ort immer wieder angetrunken mit jungen Frauen vor den Augen seiner Kinder Sex gehabt haben. Ereignisse, von denen Mutter Katherine, die strenge Zeugin Jehovas ist, nichts wissen darf. Nach den Lehren der Zeugen Jehovas, von denen auch Michael stark beeinflusst ist, sind außerehelicher Sex und Homosexualität Komplizen des Satans. Michael Jackson muss lügen und steht zwischen seinen Eltern. Seine Kindheit und Jugend ist eine unglückliche Zeit, die der Pubertät keinen Platz lässt. Später, als die Presse immer penetranter vermutet, der junge Star sei schwul, schickt ihm Vater Joe Prostituierte aufs Zimmer. Mutter Katherine arrangiert Verabredungen mit hübschen Jehova-Mädchen. Michael spricht mit ihnen über den Teufel.
Die unerträgliche Ikone
Am letzten Wochenende präsentierte die Hollywood-Reporterin Daphne Barak („Ich mache nur die A-Liste“) auf allen großen US-Kanälen ein Interview mit Katherine und Joe Jackson, das vergangenen Dienstag auch auf RTL ausgestrahlt wurde. Wir sehen eine Mutter, die verzweifelt an die Unschuld ihres Sohnes glaubt und in der Nacht schreit. Einen ewig grinsenden Vater, der „Rassismus“ als Leitmotiv der Anklage reklamiert. Die Bilder zeigen eine kaputte Familie, die sich selbst und ihre Kinder gierig dem Traum von Wohlstand und Anerkennung geopfert hat.
Die Anklage wirft Michael Jackson vor, im Februar und März 2003 den damals 13-jährigen Gavin Arvizo mehrfach sexuell berührt zu haben, nachdem er ihn mit Alkohol „gefügig“ gemacht habe. Auslöser war ein Film, der Jacksons Comeback einläuten sollte. Monatelang durfte Doku-Regisseur Michael Bashir in Neverland drehen. „Living with Michael Jackson“ sahen allein in Großbritannien 15 Millionen Menschen. Danach stiegen fünf Jackson-Alben in die Top 100. Doch man sieht auch, wie Gavin mit dem 46-jährigen Sänger Händchen hält. Und der erklärt, mit Kindern zu schlafen sei wunderbar.
In den nächsten Monaten wird sich auch zeigen, wie viele Parallelen es zwischen Gavin und Jordie gibt. Jordie Chandler ist der Junge, gegenüber dessen Eltern sich Jackson vor über zehn Jahren in einem skurrilen Vertrag zu Zahlung von geschätzten 25 Millionen Dollar verpflichtete, wenn die im Gegenzug ihre Zivilklage wegen sexuellen Missbrauchs fallen lassen. Im letzten Jahr beschrieb der deutsche Journalist und Michael.Jackson-Kenner Ingo Mocek in der Süddeutschen Zeitung, wie es zu den Anschuldigungen kam: Chandlers Vater, erfolgloser Drehbuchautor und verschuldet, verbündete sich – entschlossen, ein Massaker anzurichten, „wenn ich nicht bekomme, was ich möchte“ – mit dem ebenfalls hoch verschuldeten ehemaligen Anwalt von Ozzy Osbourne. Gemeinsam injizierten sie dem Jungen Sodiumamyatal, ein trügerisches Barbiturat, unter dessen Einfluss er den Missbrauch bestätigte.
Über die Mutter von Gavin Arvizo weiß man, dass sie vielleicht auch mal Crack geraucht hat. Und dass sie sich vor dem Prozess mit Tom Sneddon auf einem Parkplatz in Beverly Hills getroffen hat, wo der Ankläger ihr finanzielle Unterstützung zugesichert hat. 1998 hatte die Mutter Kaufhausdetektive wegen sexueller Belästigung verklagt.
Auf NBC diskutiert der Chefredakteur von People, der amerikanischen Bunten, ob ein Bild von Michael Jackson auf der Titelseite den Verkauf des Magazins eher befördert oder verhindert. Der Wahnsinn hat gerade angefangen.
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