: Plündern, zahlen, aufatmen
Eine Ballerina tanzt aus der Reihe
VON GABRIELE GOETTLE
„Beim tragischen und bedrückenden Thema der Zwangsarbeit darf es nach unserer Meinung nicht in erster Linie um das Aufrechnen von Stundenlöhnen gehen. Ansonsten besteht die Gefahr, die Tragweite des Geschehens zu verkennen …“
Rechtsabteilung Daimler-Benz
Marina (ukrainisch Maritschka) Schubarth, Tänzerin, Choreografin, Regisseurin, arbeitslos. Kümmert sich i. eigener Initiative (u. mithilfe d. Vereins Kontakte) seit den 90er-Jahren um ehemalige Zwangsarbeiter („Ostarbeiter“) aus d. Ukraine u. Russland. 1973 Einschulung in der Ukrainische Schule Kiew/UdSSR. 1976 Ausreise zu den Eltern n. Basel, 1978 Umzug n. Bonn, 1983 Schulabgang m. Mittlerer Reife. Aufenthalt in Lausanne. 1984–86 Ausbild. zur Ballerina in Budapest, Forts. in Köln, 1987 Diplom u. Hochschulabschluss in Köln als Ballerina. Engagements als Tänzerin u. a. in Genf, am Staatstheater Karlsruhe (1987–89), am Theater d. Westens in Berlin (1989–94). Operation, Arbeitslosigkeit. Seit 1987 Initiatorin div. sozialer und künstlerischer Projekte, u. a. Benefizveranstaltungen f. Kinder v. Tschernobyl. 1997 Hauptrolle im Film „La Montagne muette“, erster Eindruck v. Thema Zwangsarbeit. 1999 Dolmetscherin u. Organisatorin f. e. Team d. Filmhochschule Babelsberg während einer Reise i. d. Ukraine (z. Film „Der Garten“, Thema Tschernobyl), erste Begegnung m. einer Überlebenden d. KZs Ravensbrück. 1999 Reise auf d. Krim, Begegnung m. d. Opferverband Jalta, Simferopol, u. vielen Zeitzeugen. Arbeitslosigkeit u. Aktivitäten f. d. Rechte d. „Ostarbeiter“ (Recherchen z. Beschaffung v. Arbeitsnachweisen in Archiven v. KZs, Behörden u. Betrieben). 2000 ehrenamtl. bei Kontakte (Verein f. Kontakte zu Ländern der ehem. Sowjetunion), mithilfe d. Vereins Ausstellung i. Roten Rathaus Berlin, „Ost-Arbeiter“, gleichzeitig Gründung d. Spendenaufrufs „Soforthilfe“ f. ukrainische Zwangsarbeiter. 2001–2004 bezahlte SAM-Stelle („Strukturanpassungsmaßnahme“) bei Kontakte, daneben u. a. Choreografie am Berliner Ensemble. 2002 Gründung d. Dokumentartheaters „Ost-Arbeiter“) zus. m. Natalia Bondar, 2003 Premiere des gleichnamigen Stücks im Bunker am Blochplatz, Berlin. Seither jeden Samstagabend Aufführung a. d. Ort. Von 2000 bis heute 13 Reisen i. d. Ukraine, um Spendengelder d. „Soforthilfe“ an die ehem. Zwangsarbeiter zu übergeben. Niederschrift d. 13 Reiseberichte (Eigendruck Kontakte e. V.). Auszeichnungen: u. a. des Opferverbandes Jalta, f. Völkerverständigung u. humanitäre Hilfe f. d. Opfer des NS. 2001 Carl-von-Ossietzky-Medaille. 2004 Urkunde ukrainischer u. russischer Zeitzeugen, Auszeichnung f. d. Stück „Ost-Arbeiter“ u. d. Theatergruppe. Marina Schubarth wurde 1966 in Kiew/UdSSR geboren. Ihre Mutter war Germanistin in Kiew, später in Deutschland Arbeit als Germanistin u. Slawistin an der Uni. Der Vater war Schweizer Bundesrichter. Sie ist nicht verheiratet und hat eine Tochter.
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion und der Besetzung der Ukraine wurden bald umfangreiche Deportationen junger Menschen zur Zwangsarbeit nach Deutschland durchgeführt. Der Begriff „Ostarbeiter“, die Unterbringung, Ernährung, Entlohnung und Versicherung derselben, wurde 1942 gesetzlich festgelegt und sah, entsprechend ihrer Kennzeichnung als „rassisch minderwertige Fremdvölkische“ oder „russisch bolschewistische Untermenschen“, härteste Behandlung vor. Sie mussten täglich zwölf Stunden und mehr oft ohne Ruhetag schuften, erhielten dafür Groschenbeträge und Hungerrationen an Essen. Etwas besser erging es den westlichen Zwangsarbeitern. Ende 1944 arbeiteten fast acht Millionen Zwangsarbeiter aus etwa 20 Ländern in Deutschland (dazuzuzählen sind noch mehr als eine halbe Million jüdischer KZ-Häftlinge, die vor allem zur unterirdischen Rüstungsproduktion gezwungen wurden. Und es fehlt auch die bis heute weitgehend unberücksichtigte Anzahl der in ihrer okkupierten Heimat zur Zwangsarbeit für die deutschen Besatzer Verpflichteten). Von den fast 8 Millionen waren 1,9 Millionen Kriegsgefangene. Von den übrigen ca. 6 Millionen stammte die überwiegende Mehrheit aus der Sowjetunion und 1,7 Millionen aus Polen. Mehr als die Hälfte davon waren Frauen und Mädchen zwischen 15 und 20 Jahren. Nutznießer der Arbeit waren vor allem die Rüstungsindustrie, die Landwirtschaft sowie staatliche Betriebe und Gemeinden. Nach der Befreiung 1945 ging für viele „Ostarbeiter“ der Albtraum weiter, sie wurden der Kollaboration mit dem Feind bezichtigt, einige wurden in die stalinistischen Lager nach Sibirien verbannt.
Ein halbes Jahrhundert lang waren diese gewaltige Ausplünderung fremder Arbeitskraft und die dabei gemachten Gewinne keinerlei Thema in unserem Land; erst seit Ende der 90er-Jahre in den USA Sammelklagen eingereicht wurden gegen deutsche Firmen, haben VW und Siemens unter diesem Druck einen „Entschädigungsfonds“ eingerichtet, wurde die Bundesstiftung „Entschädigung, Verantwortung, Zukunft“ gegründet, die diesen Fonds verwaltet. Weitere Firmen folgten, viele zahlten widerstrebend ein, viele Firmen weigerten sich. Während sich die Zeit mit Streitereien hinzog, besonders um die Rechtssicherheit der Firmen, starben unbemerkt 50.000 der anspruchsberechtigten Zwangsarbeiter. Am Ende mussten 5,1 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden, je zur Hälfte von Industrie und Bund (wobei die Industrie fast die halbe Summe von der Steuer absetzen konnte, sodass dieser Teil dann auch auf den Bund entfiel). Die tatsächliche Höhe der geraubten Löhne wird von unabhängiger Seite auf etwa 92 Milliarden Euro geschätzt. Von den nun 5, 1 Milliarden Euro sind 4,1 Milliarden Euro für die Zwangsarbeiter zugestanden worden, im Regelfall ist das die einmalige Zahlung von insgesamt 2.500 Euro pro Person. Zwangsarbeit unter „besonders schweren Bedingungen“ (KZ u. Ä.) wird mit maximal 7.600 Euro „entschädigt“. Ausgezahlt wurde ab 2002 in zwei Raten. Viele erlebten die Auszahlung ihrer zweiten Rate nicht mehr. Die Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ ist „zuversichtlich, die Auszahlungen bis zum Sommer 2005 im Wesentlichen abschließen zu können“. Ein günstiger Ablass. Rechtssicherheit gab es nicht für die ehemaligen Zwangsarbeiter, sondern nur für die deutschen Firmen und die Bundesrepublik. Alle Reparationszahlungen sind sozusagen abgegolten, „etwaige weitergehende Ansprüche im Zusammenhang mit nationalsozialistischem Unrecht sind ausgeschlossen“.
Marina Schubarth hat damals vielen Antragstellern bei der Beschaffung des Arbeitsnachweises geholfen, viele konnten sich kaum die Kosten für Porto und Übersetzung ihrer Briefe nach Deutschland leisten, die Archive, Behörden und Versicherungen arbeiteten schleppend, waren trotz massiver Anfragen chronisch unterbesetzt. Viele Anträge wurden abgelehnt, viele Zwangsarbeiter gingen leer aus. „Solidarität mit den noch lebenden NS-Opfern darf sich nicht auf anonym gezahlte Kompensationsleistungen beschränken, zumal das bürokratische Auswahlverfahren zwischen Berechtigten und Nichtberechtigten viele betroffene Menschen beleidigt“, sagt Marina Schubarth.
Wir treffen sie an einem eisigen Februartag im Schöneberger Laden-Büro von Kontakte-KOHTAKTbI e. V. und nehmen um ein hübsches Tischchen herum Platz. An der Wand hängen großformatige Fotos von ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und von leukämiekranken Kindern nach Tschernobyl. Marina schaut auf ihre schmalen Hände und erzählt:
„Auf das Thema Zwangsarbeiter kam ich eher zufällig, durch die Filmrolle in dem Schweizer Film ‚Der stumme Berg‘, und dann 1999, zwei Jahre später, als ich die Absolventinnen der Filmhochschule Babelsberg begleitet habe bei ihren Dreharbeiten in Tschernobyl. Die Regisseurin kannte eine Überlebende des KZ Ravensbrück. Sie wohnte in einem ganz kleinen Ort in der Ukraine, wir haben sie oft besucht. Eines Tages sagte sie: ‚Maritschka, du lebst doch in Berlin, ich brauche, um die Entschädigung zu bekommen, einen Nachweis, dass ich in Ravensbrück war, man antwortet mir von dort nicht. Kannst du helfen?‘ Das war dann meine erste Recherche. Und es war ein brutales Erlebnis, als ich da am Computer saß in Ravensbrück, und diese Tausende von Frauennamen beginnen so zu flimmern. Ich dachte, um Gottes willen, hinter jedem Namen ist eine Seele, eine eigene Geschichte … Und plötzlich sticht der gesuchte Name heraus. Der ‚Zivi‘ im Archiv war übrigens anfangs frech und wollte mir keinen Zugang gewähren. Ich blieb aber eisern, und so kam es zu einem unbürokratischen Kompromiss: Ich darf nachschauen, und dafür übersetze ich ihm einen Brief aus der Ukraine, denn einen Übersetzer haben sie nicht mehr. Und es war genau dieser Brief, den die gesuchte Frau geschrieben hatte, mit Häftlingsnummer und allem. Er war ein halbes Jahr alt. Und so ging es dann weiter, es sprach sich natürlich rum. Im Sommer wollte ich eigentlich auf der Krim Ferien machen. Ich wohnte bei einer befreundeten Familie, dort habe ich mal einen Scherz gemacht und gesagt: ‚Polina, bei dir sieht es so aufgeräumt aus, so was sieht man nur in Deutschland!‘ Sie hat gelacht und sagte: ‚Ich war auch in Deutschland! Und übrigens möchte mit dir unser Opferverbandsvertreter von Jalta sprechen, man wartet auf dich.‘ Der Opferverband war in einer Art Baracke, das Ganze desolat und auf einem Hügel. Mir ist fast das Herz stehen geblieben beim Anblick der alten Leute, wie sie mit ihren Stöcken mühsam heraufkamen. Sie setzten sich auf die teils kaputten Stühle, es wurde erzählt, und dann haben alle geweint, Männer und Frauen. Und plötzlich weinte auch der Opferverbandsvertreter los, der war in Anzug mit Krawatte, und wenn so ein Mensch weint, dann sind alle Grenzen erreicht, eigentlich.
Das war der Beginn einer Lawine. Der Satz: ‚Unsere Stimmen werden nicht gehört, uns kennt niemand, nicht in Deutschland, nicht hier‘ blieb mir im Gedächtnis und er hat mich zu der Entscheidung gebracht, etwas zu tun. Damals gab es die große Debatte um die Stiftung ‚Erinnerung, Verantwortung, Zukunft‘, und ich fand das traurig, wie kleinlich das alles war, wie zäh es sich hinzog wegen formaljuristischer Streitereien, wo doch die Zeit drängt. Denn wenn man es mit Opfern zu tun hat, die vielfach nicht nur alt, sondern auch krank und gebrechlich sind, dann ist es einfach sehr schäbig, sich jahrelang Zeit zu lassen! Ich dachte, da muss man gleich was machen. Was ich kann, das will ich tun. Neben meinem Arbeitslosengeld verdiente ich noch ein bisschen dazu durch Ballettunterricht, und dieses zusätzliche Geld habe ich dann investiert in Recherchen, Faxe, Porto, Telefon, um einerseits Nachweise zu beschaffen und andererseits irgendwie die Öffentlichkeit zu erreichen mit diesem Problem.
Aber egal, wohin ich auch schrieb, ich bekam keine Reaktion von den Redaktionen und Fernsehanstalten. Man konnte sich nicht mit der Angelegenheit befreunden, es war kein Thema, dass ehemalige Zwangsarbeiter keine Möglichkeit haben, an ihr Recht zu kommen, weil sie keine Möglichkeit haben, nach Deutschland zu schreiben und um ihre Unterlagen zu bitten, weil sie kein Deutsch sprechen, kein Geld für Porto und Dolmetscher haben, keine Adressen, nichts! Was ein Ostarbeiter ist, war weitgehend unbekannt, dabei wurden die armseligen Zwangsarbeiterkolonnen morgens und abends mitten durch die Städte getrieben damals, jeder hat sie gesehen. Der Verein Kontakte, auf den ich dann stieß, hat mir dabei geholfen, das Thema durch eine Ausstellung im Roten Rathaus etwas bekannter zu machen. Es ist wichtig, dass die Leute sehen, das ist das Gesicht eines Menschen, er hat dies und das Schicksal, er hat diese und jene Probleme heute. Und es kamen dann tatsächlich die ersten Berichte in der Zeitung, und unsere Arbeit wurde allmählich bekannter, gleichzeitig gründeten wir auch den Spendenaufruf „Soforthilfe“ für ukrainische Zwangsarbeiter, alles im Jahr 2000. Und seitdem habe ich 13 Reisen in die Ukraine gemacht, um den Leuten das Geld selbst zu bringen, damit nichts versickert auf langen Umwegen. 13 Reisen in fünf Jahren! Es braucht immer Zeit, bis das Geld zusammenkommt, meistens zahlen bei uns eher Leute was ein, die nicht so viel haben, Studenten, Arbeitslose, Leute in kleinen Jobs, wir haben fast immer Beträge so zwischen 25 und 50 Mark bekommen – übrigens, falls jemand was spenden möchte, darf ich das Konto nennen? … Es ist unter dem Kennwort ‚Soforthilfe‘ die Kontonummer: 24 24, und zwar bei der Berliner Volksbank, BLZ 100 900 00 …“
Eine junge Frau betritt den Laden, sie will sich vorstellen und wird weitergeschickt nach hinten ins Büro. Wir bitten Marina, etwas von den Reisen zu erzählen.
„Also jede Reise hat ein eigenes Konzept, ich sehe zu, dass mich immer jemand von der Presse begleitet, und in den jeweiligen Orten treffen wir dann erst mal die Opferverbandsvertreter – bzw. die Vertreterinnen, inzwischen sind es fast nur noch Frauen, mit denen ich zu tun habe, die Männer sind bereits gestorben. Alle Vertreter sind übrigens selbst NS-Opfer. Und wir bereden dann, wo herrscht große Not, wer ist krank und braucht dringend Medikamente usw., und wir besuchen dann auch die Leute gemeinsam. Das ist besser. Aufgrund der hohen Kriminalität in diesem Land möchten die alten Leute oft die Tür nicht aufmachen, und überhaupt erzählen sie leichter, wenn jemand dabei ist, den sie gut kennen. Manchmal sind wir ein Team von mehreren Frauen, je nachdem, wie viele Journalisten aus Berlin mich begleiten.“ Wir fragen, ob das für die Gastgeber kein Problem ist, wenn da Deutsche in ihrer Wohnung sitzen? „Nur ein einziges Mal habe ich das erlebt, da war die Frau sehr traumatisiert, sie war kurz vor dem Sterben, als man ihr sagte, es sind Deutsche gekommen, da schrie sie: ‚Bitte holt mich nicht ab, kommt nicht mit Stiefeln rein …‘ Wir haben dann ihre Hand genommen und sie beruhigt. Aber sonst freuen sie sich. Wir kommen ja meist unangemeldet, sehr viele haben kein Telefon. Wir kommen aber auch deshalb unangemeldet, weil die Ukrainer ein sehr offenes Volk sind, sie lieben es, wenn Gäste kommen. Wir müssen unbedingt vermeiden, dass sie es wissen, sonst gehen sie vorher los, kaufen ein und kochen und backen, die würden ihre kleine Rente ausgeben und sogar noch was leihen, nur um die Gäste zu bewirten. Aber wir sagen, wir möchten gerne, dass Sie uns Ihre Geschichte erzählen. Viele erzählen uns dann sehr bewegt von ihren Erinnerungen. Das Geld habe ich in einem Umschlag, den übergebe ich am Schluss; denen, die noch gehen können, gebe ich’s immer in Euro, das ist günstiger, wegen der schwankenden Wechselkurse. Ist jemand bettlägerig, dann geb ich’s in ukrainischer Währung. Ich sage dann, da drin ist ein ‚freundschaftlicher Gruß aus Deutschland‘, ich nenne es eine ‚kleine Geste‘. Und sie können das annehmen von uns, die wir aus Deutschland kommen, denn sie betrachten das als eine faschistische Ära, sie trennen zwischen Deutschen und Faschisten, und die Rote Armee hat den Faschismus besiegt. Und ansonsten halten einige sich in der Erinnerung an einem Deutschen fest, der vielleicht damals gut zu ihnen war, ihnen heimlich einen Apfel zusteckte oder etwas Brot, was ja streng verboten war.
Es ist sehr wichtig für die ehemaligen Zwangsarbeiter, dass man aus Deutschland diesen Weg gemacht hat zu ihnen, dass man sich die Zeit genommen hat, ihre Geschichte anzuhören. Und dass man ihnen glaubt, das ist ein besonders wichtiger Faktor! Ich kenne viele Frauen, die z. B. ihren Ehemännern bis zum Schluss, bis sie gestorben sind, nie etwas davon gesagt haben, dass sie nach Deutschland verschleppt wurden zur Zwangsarbeit. In einem Fall war das besonders tragisch, die Frau hatte als 15-Jährige in einer deutschen Munitionsfabrik arbeiten müssen, und sie wusste, gegen wen die Munition abgefeuert werden soll. Sie hat später einen Mann geheiratet von der Roten Armee. Er hatte nur einen Arm, und sie hat sehr gelitten unter der Vorstellung, dass vielleicht ihr Geschoss es war, das ihm den anderen Arm weggeschleudert hat. Also, wie konnte sie ihm das sagen?! Viele hatten auch traumatische sexuelle Erfahrungen. Das deutsche Wachpersonal benutzte die jungen Mädchen einfach nach Lust und Laune. Wenn man die Statistik z. B. für Neukölln anschaut, dann war, glaube ich, 1944 jedes fünfte Neugeborene das Kind einer Ostarbeiterin. Als diese Mütter zurückkehrten nach dem Krieg, da hieß es ‚na ja, deutsches Kind!‘ Diese Kinder hatten es sehr, sehr schwer in der Schule, deshalb haben dann alle Betroffenen geschwiegen und hatten mehr als 50 Jahre lang keinen Opferstatus. Die Mütter konnten noch froh sein, dass man sie wegen Kolaboration mit dem Feind nicht ins Lager verbannt hat. Also, 99 Prozent aller Betroffenen, die ich kenne, hatten aufgrund ihrer Zwangsarbeit in Deutschland hinterher mit dem KGB zu tun und wurden dann zum Teil absolut demütigenden Verhören unterworfen. Also, ich muss sagen, durch diese Arbeit, die ich da mache, habe ich das ganze Ausmaß dieses Krieges erst begriffen. Ich habe mir eine extra große Landkarte besorgt, auf der viele kleine Örtchen verzeichnet sind, und ich begriff plötzlich, dass die Deutschen auch noch aus dem kleinsten Kaff die gesamte Bevölkerung einfach mitgenommen haben, oder die jungen Menschen wurden weggefangen von der Straße und zur Zwangsarbeit deportiert. Da kann ich erzählen von Nadeshda Slessarewa, einem Opfer von Stalinismus und Faschismus, Tochter eines Offiziers, der 1937 erschossen wurde, die Mutter kam in ein Lager nach Sibirien, sie selbst kam in ein Waisenhaus für Kinder von ‚Vaterlandsverrätern‘. Der Tante gelang es, sie zu adoptieren, doch eines Tages kamen sie in eine Umzingelung von Deutschen. Damit begann 1944 ihre zweite Leidenszeit. Sie wurden in einer endlosen Kolonne mit zahllosen Gefangenen bis nach Stettin getrieben, wo sie als 13-Jährige zum Bunkerbau kommandiert wurde. Wenn man sich die Ukraine mal anguckt und weiß, wie groß dieses Land ist, kann man diesen ungeheuren Fußmarsch gar nicht fassen. Ihre Tante hat ihr die Augen verbunden, damit sie die zerstörten Dörfer nicht sieht, aber trotzdem konnte sie unter der Binde – unten durch – die Beine der Gehängten und die Leichen am Boden sehen. Später wurde sie eine Konstrukteurin, hat Brücken gebaut und U-Bahnen, ungefähr 4.000 Männer hat sie unter sich gehabt auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Nadeshda ist heute ehrenamtlich im ukrainischen Opferverband tätig und ist seit dem Jahr 2000 eine unserer wichtigsten Kontaktpersonen, sie hat uns auf zahllosen Hausbesuchen begleitet und kümmert sich um mehr als 300 ehemalige Zwangsarbeiter. Diese Frau ist unglaublich aktiv …“
Eberhard Radcuweit betritt den Raum, er ist Gründer von Kontakte und Mitinhaber der Ossietzky-Medaille. „Wir sprechen grade von Nadeshda Slessarewa“, sagt Marina. Er wirkt erfreut: „Ja, sie ist eine bemerkenswerte Frau, ohne ihre Hilfe hätten wir die ehemaligen Zwangsarbeiter gar nicht in dieser persönlichen Form erreichen können.“ Wir plaudern noch kurz, während neuer Tee aufgebrüht wird, dann verabschiedet er sich.
Marina fährt fort: „Aber sie ist eine der Ausnahmen. Viele waren zeitlebens traumatisiert, manche haben resigniert, und die meisten leiden sehr unter der massiven Altersarmut, die nun in der Ukraine herrscht. Deshalb brauchen sie das Geld sofort und nicht erst in einem halben Jahr. Viele werden die Auszahlung der zweiten Rate nicht erleben. Viele sitzen krank zu Hause, ohne Medikamente! Die Durchschnittsrente liegt so in etwa bei umgerechnet 30 Euro. Wenn ich für mich dort dreimal einkaufe, sind 25 Euro weg – und ich bin Vegetarierin. Die Leute können die Miete nicht mehr zahlen, geschweige denn den Strom. Und dann haben sie ja keine Krankenversicherung und nichts – zuvor waren alle medizinischen Leistungen kostenlos, seit ein paar Jahren müssen die Alten und Kranken alles selbst zahlen; Medikamente, Arztbesuche, Operationen. Das Gute ist, dass es immer noch eine große Hilfsbereitschaft gibt, der Nachbar bringt schon mal ein Süppchen vorbei und hilft, wenn er kann. Wem das fehlt, der ist arm dran. Ich war bei einer Frau, die hatte noch ein kleines Stück Weißbrot, sonst nichts. Eine andere hatte nur noch Äpfel zu Hause und mehrere Gläser voll Weihwasser, das trank sie gegen die offenen Beine, das war ihre letzte Medizin, davon lebte sie. Wir kaufen dann natürlich erst mal ein. Kartoffeln, Nudeln, Mehl, Öl, Zucker, einen Vorrat für längere Zeit. Das steht dann in der Küche, und ansonsten sind viele Wohnungen leer, eine Glühbirne, Bett, Schrank, Tisch, ein Foto, fertig! Die haben alles, solange es noch ging, zu Geld gemacht, um zu überleben. Bei anderen hingegen kommt man in die Wohnung und merkt erst gar nichts, fragt sich, warum klagen sie denn? Sie haben doch Teppiche mit Elchen an der Wand, haben Kristall. Kristall aus Polen. Eine tickende Uhr aus der DDR. Jeder konnte sich diese Dinge früher leisten. Heute sind sie keinen Cent mehr wert, weil keiner sie mehr will, die Leute wollen Dinge aus dem Westen, aus Amerika. So ist das. Wir versuchen, den Ärmsten zu helfen. Auch in Zukunft. Denn viele wurden trotz glaubhafter Berichte über ihre Zwangsarbeit abgelehnt, weil sie keinerlei Nachweise erbringen konnten. Oft wurden die Nachweise und Unterlagen vernichtet, gingen verloren oder wurden auch versteckt.
Dazu kann ich folgende Geschichte erzählen: Für die Frau, die mit einem Rotarmisten verheiratet war und ihm zeitlebens ihr Zwangsarbeiterschicksal verschwieg, habe ich damals in Weißenburg nach Dokumenten gesucht und nach alten Aufnahmen von der Stadt. Sie erzählte mir nämlich, wie sie mit geschorenen Haaren, Holzschuhen und mit OST gekennzeichneter Kleidung in der Arbeitskolonne durch Weißenburg getrieben wurde, wie einige Leute spuckten und riefen ‚Russenschweine‘. Und sie sagte, das Einzige, wo ich immer hingeguckt habe, das war auf den Boden, und da waren plötzlich wunderbar schöne Rosen, die geblüht haben in Rabatten, entlang dieser Straße. Und die gibt es heute noch! Ich habe sie gefunden. Dann ging ich ins Archiv der Stadt, fragte nach alten Postkarten und Bildern aus den 40er-Jahren und auch, ob sie Unterlagen über Zwangsarbeiter haben. ‚Nein, leider nicht!‘ Man gab mir aber einen großen Ordner mit alten Aufnahmen, und als ich die durchgehe, fällt eine dicke Mappe aus dem Ordner raus, ich mach sie auf und das war ein Schock: Es waren Namenlisten von den Zwangsarbeitern. Ich gehe sie mit dem Finger durch, und bei tausendfünfhundertnochwas steht ihr Name plötzlich da. Der junge Archivar war sehr erstaunt und sagte: ‚Nach dem Krieg wollte man vielleicht nicht, dass es jemand findet.‘ Ich bat ihn dann, mir eine Kopie zu machen mit einem Stempel, denn das war ja ein Nachweis. Schlussendlich habe ich alles kopiert, was mit Ostarbeitern zu tun hatte, und habe es an die Ukrainische Stiftung geschickt.
Aber neben der materiellen Hilfe und der Beschaffung bürokratischer Dokumente ging es mir als Drittes auch immer schon um die Lebensberichte, von denen so viele wie möglich aufbewahrt werden müssen als Zeitdokumente, damit die Geschichte nicht anonym bleibt und nach der Auszahlung ins Vergessen versinkt. Und das ist auch der Sinn des Theaterstücks. Ich habe ein Szenario geschrieben, zwei Biografien ausgewählt und zusammen mit meiner Freundin Natalija Bondar, mit der ich seit sehr vielen Jahren schon Theater spiele, das dann umgesetzt. Das war vor zweieinhalb Jahren. Seitdem spielen wir jeden Samstagabend das Stück, die Schauspielergruppe ist inzwischen von 10 auf 38 Personen angewachsen, Profis und Laien mit 14 Nationalitäten, darunter viele Jugendliche. Ich finde das fantastisch, alle spielen ohne Bezahlung, die Einnahmen gehen an die Zwangsarbeiter. Manchmal haben wir auch Besuch von Zwangsarbeitern, die sich das Stück anschauen. Dann nehmen wir immer eine sanftere Variante, das heißt, wir lassen nicht wie sonst das Publikum vor dem SS-Mann erzittern. Also jeden Samstag um 20 Uhr im Bunker am Blochplatz, Bad- Ecke Hochstraße, gegenüber vom Bahnhof Gesundbrunnen im Wedding, Einlass ab 19.45 Uhr. Der Bunker wurde übrigens 1941 von Zwangsarbeitern zum Luftschutzbunker umgebaut. Also mir bzw. uns ist das alles sehr wichtig und es wird, wie immer, wieder mal von niemandem unterstützt. Es laufen Kämpfe um Geld, für eine Tournee in die Ukraine, ich hoffe und glaube, dass wir Geld von der deutschen Stiftung dafür bekommen. Und ich möchte hervorheben, diese Tournee haben die Zwangsarbeiter selbst initiiert, das waren nicht Politiker! Nicht Kulturministerien. Von da kommt absolut kein Signal. Wir haben den Berliner Kultursenator schon mehrmals eingeladen, ich habe ihm sogar persönlich die Karte in die Hand gegeben. Es passiert nichts! Da herrscht vollkommenes Desinteresse …“
Wir würden gerne noch etwas über Kindheit und Jugend erfahren. „Ich will es mal kurz machen, also ich bin in Kiew geboren, meine Großmutter war Physikerin, mein Großvater ukrainischer Schriftsteller, meine Mutter war Germanistin. Ich bin eigentlich sehr typisch sowjetisch erzogen worden: Freundschaften pflegen, der älteren Generation helfen, Völkerverständigung usw. Das ganze Bild brach, als ich so acht Jahre alt war und meine Mutter einen Schweizer geheiratet hat. Meine Mutter musste ausreisen und ich durfte damals nicht mit. Erst mit 9 1/2 durfte ich ihr in die Schweiz folgen; denn, so hatte ich erfahren müssen, es war was ganz Schlechtes, was meine Mutter da getan hatte mit einem Kapitalisten. Das hatte ich in der Schule zu spüren bekommen. Und dann, in der Schweiz, galt ich als Kommunistin, die Eltern haben ihren Kindern gesagt, dass sie sich wegsetzen sollen. Diese Wunderwelt Schweiz hat mich überrascht, zuerst war ich geblendet, aber in der Schule war die Bildung weit hinter dem Stand zurück, den ich gewohnt war. Ich schrieb meinem Großvater: Bitte schick mir die sowjetischen Lehrbücher, damit ich lernen kann. Und selbst bei den einfachsten Fächern war es schlimm. In der sowjetischen Schule hatten wir Werkunterricht, gemeinsam mit den Jungen. Wir haben Tische gemacht, Stühle. In der Schweiz gab’s für die Mädchen nur Handarbeiten. In Bonn später war es dann auch nicht besser. Ich habe neben der Schule Ballett gemacht, das war es, was ich wirklich wollte. Als ich noch klein war, vier oder fünf, nahm meine Großmutter mich schon mit zu Balletten. Den Geruch von Spitzenschuhen habe ich heute noch in der Nase – sie wurden früher mit einem Kleber gemacht, der wahrscheinlich von Bäumen kam. Also, es gab einen Harzgeruch, verbunden mit Puder. Und dann Samt und Satin in rosaroter Farbe … Das waren die Kiewer Spitzenschuhe … Damals waren auch die Eintrittskarten für alle erschwinglich. Also, bei uns wusste jede Marktfrau, wann und wie viel die Ballerina sich drehen muss, wenn was nicht stimmte, haben sie schon Buh gerufen. Ich bin dann mit 18 nach Ungarn zur Ballettausbildung. Nach Französisch und Deutsch lernte ich so auch noch Ungarisch neben dem Tanzen, ich hatte Freundschaften, es war schön. Und dann passierte Tschernobyl! Ich war 20, und in dieser Nacht hat es mich so geschüttelt, dass ich aufstand und einen Freund gebeten habe, mich nur schnell rauszubringen aus der Wohnung. Wir saßen an einem schönen Dom in Budapest in der Nacht, und ich habe geweint. Und dann sahen wir die Vögel, wie sie um 2 Uhr nachts total aufgeregt zwitscherten und herumflogen. Ich habe das alles in meinem Tagebuch aufgeschrieben. Was passiert war, erfuhr ich erst am nächsten Morgen … Es war schrecklich, nichts tun zu können. 1991 war ich dann mit der Ärztedelegation der IPPNW [International Physicians für the Prevention auf Nuclear War, Anm. G.G.] dort, sie haben Kinder untersucht und Erdproben genommen, und ich habe die Kontakte gemacht und gedolmetscht. Vor einer Klinik stürzten plötzlich Mütter mit Kindern auf dem Arm vor mir auf die Knie und flehten mich an, ihre Kinder mitzunehmen in den Westen, damit sie überleben.
Als ich zurückkam, haben wir ein Musical einstudiert, und ich merkte, ich pack es nicht, ich kann es nicht mehr trennen! Und so kam es dann zu dieser Benefizveranstaltung am Theater des Westens, das Geld bekamen die Tschernobyl-Kinder. Und als ich dann durch eine Operation nur noch unter Schmerzen tanzen konnte, dachte ich, ich will das Künstlerische und Soziale verbinden. Und das mache ich eigentlich heute. Ein Schlag ins Gesicht ist für mich aber, dass man diese Arbeit nicht unterstützt. Ich habe mich mit großer Zähigkeit in die Zwangsarbeiterproblematik hineingearbeitet, bin Expertin geworden, gebe meine Erfahrungen weiter, mache eigentlich praktische Versöhnungsarbeit, ich spreche fünf Sprachen, kläre die Jugend über mein Thema auf. Und trotzdem gibt es scheinbar keinen Bedarf für meine Arbeit. Ich habe jetzt noch Arbeitslosengeld ein Jahr lang, und das war’s dann …“
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