DIE ERSTAUNLICHE KARRIERE EINER UMWELTDEBATTE: Aus dem Staub gemacht
Das ist schon eine merkwürdige Erfahrung. Deutschland diskutiert die Sperrung seiner Innenstädte für Pkws und Lkws – und keine Welle der Wut rollt durchs Land. Die Populisten der Republik schweigen. Ob in München, Berlin, Dortmund oder Düsseldorf: Nachdem Bürger, unterstützt von Umweltorganisationen, ihr Recht auf gesunde Luft einklagen oder jedenfalls damit drohen, gewinnt eine Debatte, die die Ökos seit Jahrzehnten vergeblich zu entfesseln suchen, jeden Tag mehr an Fahrt.
Es ist die Debatte über die Lebensqualität in unseren Städten. Über die Frage, ob Stadtluft noch frei macht oder schon tötet. City-Maut? Sonntagsfahrverbote? Schranken runter für Dieselstinker? Lkws raus aus den Städten? Bitte schön, derzeit scheint alles möglich, von Grün bis Schwarz. Und niemand mokiert sich über Hinterbänkler auf der Suche nach der schnellen Schlagzeile.
Selbstverständlich hätte diese Diskussion früher, gründlicher und abgeklärter geführt werden können und müssen. Seit Januar sind die Feinstaubgrenzwerte verbindlich, die EU-Richtlinie stammt aus dem Jahr 1996, ihre Grenzwerte sind von 1999, die Umsetzung in deutsches Recht steht seit 2002. Nun kommt Hektik auf, weil viele Verantwortliche schliefen oder sich von der deutschen Automobilindustrie an der Nase herumführen ließen. Die wiederum hatte sich zu einem regelrechten Boykottkartell gegen den Dieselfilter verschworen, nach draußen die Parole ausgegeben: Wir machen es ohne!, und ihre Lobbytruppen losgeschickt, um die Grenzwerte aufzuweichen. Das ging gründlich daneben, und nun herrscht Heulen und Zähneklappern, weil die Filter knapp sind und Marktanteile wie Umsätze schrumpfen könnten.
Gipfel der Merkwürdigkeiten: Selbst diese Aussicht löst nicht den üblichen Reflex aus, den Ökos die Schuld zuzuschieben, weil sie den Aufschwung der deutschen Automobilindustrie abwürgen. Das depressive Deutschland plötzlich auf dem Umwelttrip? Möglicherweise ist es ja so, dass der monströse Jammerchor andere Töne in der deutschen Gesellschaft viel zu lange hat verstummen lassen. Möglicherweise war es keine gute Idee der Marketingchefs der Automobilindustrie, ihre Kunden mit Gratisklimaanlagen statt mit Gratisrußfiltern zu ködern. Möglicherweise wächst die Erkenntnis, dass Produktion und Einbau von Millionen Rußfiltern nicht nur der Gesundheit dienen, sondern auch der Konjunktur. Und möglicherweise ist das Volk nicht ganz so blöd, wie manche es gerne hätten. GERD ROSENKRANZ
Der Autor ist politischer Leiter bei der Deutschen Umwelthilfe
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