piwik no script img

MÜNTEFERING ERWEITERT DEN AKTIONSRADIUS DER SOZIALDEMOKRATIEDie langen Wellen der Kapitalismus-Kritik

„Hoffnungslos anachronistisch“ und „ökonomisch lächerlich naiv“ – so könnte man die Reaktion zusammenfassen, die auf Franz Müntefering herabprasselt, seit der SPD-Chef die „international wachsende Macht des Kapitals“ und die „totale Ökonomisierung eines kurzatmigen Profithandelns“ kritisierte. Bestenfalls seien solche Sprüche für einen kurzfristigen Effekt bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen geeignet.

Engt Münteferings Kapital-Bashing den Aktionsradius der Sozialdemokraten ein oder erweitert sie ihn? Verengung hieße, einer Identitätspolitik zu folgen, die sich am vertrauten Gegensatz von Kapital und Arbeit orientiert. Also: sich einzumauern. Erweiterung hieße, die Widersprüche der globalisierten Ökonomie in den Blick und den Faden wieder aufzunehmen, der gerissen ist, seit die SPD bedingungslos „der Wirtschaft“ vertraut. Also: Öffnung auch gegenüber neuen Bündnissen.

Kein Zweifel, dass Müntefering auf diese Öffnung setzt. Er verteidigt nicht den Sozialstaat in seiner nationalen Ausformung, sondern setzt auf seine Überlebensmöglichkeit innerhalb der Europäischen Union. Sein Angriff auf „das Kapital“ gilt nicht dem Kapitalismus als Produktionsweise, sondern den multinationalen Konzernen und deren Strategie der Profitmaximierung. Natürlich erweist sich vom marxistischen Standpunkt aus eine solche Trennung als künstlich. Aber Müntefering ist kein Marxist, eher ein Sozialethiker, Verfechter einer „antimonopolistischen Demokratie“. Und: Der Parteifunktionär weiß, woher der Wind weht.

Wenn er vom „Kapital“ spricht, hat er die Anschlussfähigkeit seiner Kritik im Auge, ihre gesellschaftliche Relevanz. Müntefering will mit seiner Attacke die SPD auf die lange Welle eines Mentalitätswechsels in Europa setzen. Er begreift, dass der „schlanke Staat“ sich keines starken Zuspruchs mehr erfreut und die Zeichen zunehmend auf Gegenwehr stehen. Es könnte sich herausstellen, dass es gerade die Kritiker von Münteferings Vorstoß sind, die einer engen, traditionalistischen Vorstellung des Verhältnisses von Staat und Kapital anhängen. CHRISTIAN SEMLER

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen