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„Vollbeschäftigung ist machbar“

INTERVIEW JÖRN KABISCH UND THILO KNOTT

taz: Herr Geißler, Sie zitieren neuerdings Karl Marx. Was ist los mit Ihnen?

Heiner Geißler: Marx war ein schlechter Prophet, aber ein guter Analytiker. Er beschreibt ungefähr das, was auch heute beschrieben werden müsste.

Und zwar?

Ein System, das sich dadurch definiert, dass der Börsenwert der Unternehmen umso höher steigt, je mehr Leute wegrationalisiert werden, ist nicht sehr intelligent, und Dummheit macht mich wütend.

Wann haben Sie Ihren letzten Wutanfall bekommen? Bei der Meldung, dass die 30 DAX-Unternehmen im laufenden Geschäftsjahr voraussichtlich einen Gesamtprofit vor Steuern von 62 Millionen Euro machen werden?

Nein, ich bin hoch erfreut, wenn die Unternehmen Gewinne machen. Selbstverständlich muss der Aktionär eine angemessene Verzinsung seines Kapitals haben. Aber der andere Teil des Gewinns muss investiert werden. In Innovation, in Forschung, in neue Maschinen. Herr Ackermann von der Deutschen Bank zum Beispiel macht aber Aktienrückkäufe.

„Kapital eliminiert Arbeit“ ist eine Ihrer Lieblingsthesen. Sehen Sie ernsthaft eine Chance, diese Relation wieder ins Gleichgewicht zu bringen, den Faktor Arbeit wieder zu stärken und nicht zurückzuschrauben?

Im Moment sind die Dinge auf den Kopf gestellt. Normalerweise müsste ja das Kapital den Menschen dienen und dürfte nicht den Menschen beherrschen. Bei Megafusionen, das hat man bei Mannesmann und Vodafone gesehen, profitierten die Manager, die die Fusion zustande gebracht haben – und die Benachteiligten waren die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist das Problem.

Wer schraubt das wieder zurück? Die Manager werden sich wohl kaum von selbst eine Unternehmensethik verschreiben.

Nicht alle Manager machen alles falsch. Leute wie Heinrich von Pierer oder Wendelin Wiedeking bei Porsche stehen Weltunternehmen vor, die das Kapital im Interesse des eigenen Unternehmens und der eigenen Leute einsetzen. Aber das tun nicht alle. Deswegen brauchen wir ein neues Aktienrecht.

Was schlagen Sie vor?

Man muss das Aktienrecht im Sinne der langfristigen Anleger ändern.

Wie?

Sie müssen auf den Aktionärsversammlungen ein größeres Stimmrecht bekommen. Momentan gilt: eine Aktie, eine Stimme. Das kommt den Fondsgesellschaften entgegen, die nur die schnelle und hohe Rendite sehen wollen. Die denken in Dreimonatszyklen. Zudem dürfen die Vorstandsbezüge nicht mehr an den Aktienkurs gekoppelt sein. Denn dadurch wechseln die Vorständler die Fronten – und handeln nicht mehr wie ein Unternehmer.

Reicht denn der nationale Rahmen überhaupt noch aus?

Nein. Die Weltkonzerne sind global aufgestellt, also braucht man auch eine internationale Ordnung des Systems. Den G-7-Staaten liegen Konzepte vor, wie man das gigantische Spekulantentum auf der Welt ordnet. Zum Beispiel durch Einführung einer Spekulationssteuer.

Entschuldigung, Herr Geißler, aber wer soll das denn durchsetzen? Wo ist diese internationale Instanz?

Richtig, wir brauchten eigentlich einen Weltstaat. Aber bis wir den haben, muss man es eben mit bilateralen oder multilateralen Regelungen zwischen den großen Industriestaaten hinbekommen.

Und warum bekommt man es bisher nicht hin?

Man braucht ein Konzept und zu dessen Durchsetzung einen politischen Willen.

Der aber nicht vorhanden ist?

Weder bei den Regierungen noch bei den politischen Parteien! Wir befinden uns unter der Käseglocke eines Meinungskartells.

Meinungskartell?

Ja, ein Meinungskartell. Da gehören Sie ja selber dazu.

Sie meinen, auch die taz?

Ja, auch die taz.

Das müssen Sie uns erklären.

Indem Sie Leute als alte Betonköpfe hinstellen, die den Kapitalismus kritisieren oder die sagen, wir brauchen auch noch Solidarität.

Die taz hat unseres Wissens nichts gegen Leute, die Solidarität fordern.

Aber auch sie befindet sich modisch im Schlepptau des Neoliberalismus – und vergisst, dass es nicht auf die grauen Haare ankommt, sondern auf die grauen Zellen.

Das Meinungskartell …

… ist entstanden, weil es immer mehr Betriebswirtschaftler auf den Lehrstühlen gibt anstatt Volkswirtschaftler. Und dann sind da noch diese wirtschaftswissenschaftlichen Institute. Sie werden zum Teil von der Industrie finanziert, im Fernsehen aber als die objektiven Wissenschaftler hingestellt.

Was sind die falschen Thesen dieses Kartells?

Zum Beispiel diese: Man müsse nur alles dem Markt überlassen, alles privatisieren und jeder solle für sich selbst sorgen. Ja, was soll das heißen? Soll den Leuten noch mehr weggenommen werden? Ob das Reformen sind, das kann man füglich bezweifeln.

Dann sind Wachstum und Vollbeschäftigung also keine Mythen?

Natürlich ist Vollbeschäftigung noch machbar. Wir machen nur schwere Fehler in der Konjunkturpolitik.

Die da wären?

Die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, die wir seit 25 Jahren betreiben, hat die Verhältnisse nicht besser gemacht, sondern verschlechtert. Wir brauchen eine antizyklische Konjunkturpolitik.

In Ihnen spricht jetzt ganz der Gewerkschafter …

Das wäre auch kein Verbrechen. Aber im Ernst: Wir brauchen eine nachfrageorientierte Politik. Man darf den Menschen nicht mehr Geld wegnehmen. Sie müssen mehr in der Tasche haben und wieder Mut bekommen. Wenn die Menschen Angst haben vor der Zukunft, geben sie auch kein Geld mehr aus. Deutschland ist Exportweltmeister und hat zehn Prozent Anteil am ganzen Welthandel. Und diese Exportartikel werden abgesetzt, weil sie besser und nicht billiger sind. Woran es fehlt, ist die Nachfrage. Und die Politik macht die kaputt.

Offensichtlich gibt es in der Bundesregierung ein großes Umdenken. Nun hat SPD-Chef Müntefering den Kapitalismus in großem Stile gegeißelt. Herr Geißler, treten Sie jetzt der SPD bei?

Wieder so eine komische taz-Frage.

Erkennen Sie ein Umdenken innerhalb der SPD?

Leider noch nicht. Das Schlimme an dieser Müntefering-Rede ist doch, dass sie nur gehalten worden ist, weil der SPD in Nordrhein-Westfalen die Felle wegschwimmen. Müntefering glaubt, er könne mit dieser Kapitalismuskritik die Leute mobilisieren.

Und, wird er?

Möglicherweise. Jedenfalls ist es eine wahltaktische Meisterleistung. Ich fürchte, das wird spätestens nach der NRW-Wahl in sich zusammenfallen wie eine Seifenblase.

Was hat Müntefering falsch gemacht?

Dass er damit ausgerechnet sechs Wochen vor der Landtagswahl gekommen ist. Das Thema ist ja völlig in Ordnung. Und überfällig. Aber er hat damit das Anliegen diskreditiert.

Abgesehen von parteitaktischen Überlegungen …

… da gibt es nichts abzusehen. Denn wieso kommt er jetzt erst daher? Die letzten zwei, drei Jahre ist er mit der Agenda 2010 der Vollstrecker einer Philosophie gewesen, die den Menschen zum Kostenfaktor gemacht hat. Im Anschluss an seine Rede hat Müntefering gesagt, die SPD werde an der Agenda 2010 festhalten. Na bitte!

Sie werfen Müntefering Verlogenheit vor?

Ich beteilige mich nicht an Beleidigungen anderer Leute.

Aber in der CDU kommen Ihre Vorstellungen, basierend auf der christlichen Soziallehre, doch auch nicht richtig an.

Die CDU ist in Gefahr, der SPD in die Falle zu laufen. Die SPD kalkuliert mit ihrer Kapitalismuskritik, dass die CDU in den alten, eingeübten Reflexen genau das Gegenteil sagt und sich auf die Seite der Kapitalisten stellt. Und in der Tat: Einige in der CDU sind so dumm und machen das.

Braucht Ihre Partei einen neuen Erhard?

Sie braucht einen konzeptionellen Denker wie ihn, das ist richtig. Nun leben wir heute in einer globalisierten Welt. Und man kann sicherlich nicht alles übertragen, was zu Erhards Zeiten richtig war. Aber die Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft kann man übertragen, ganz gleich ob sie das nun christlich nennen oder humanistisch. Es handelt sich in jedem Fall um eine Philosophie, die den Menschen nicht ausgrenzt, sondern in den Mittelpunkt stellt. Das müsste die CDU wieder entdecken und mit Inhalten füllen.

Wo nehmen Sie die Hoffnung her, wenn selbst die katholische Kirche Schröders Reformpolitik gutheißt?

Das ist ein typisches Beispiel für diesen Modernisierungswahn. Alle wollen irgendwie modern sein, und deswegen sagen alle: Reformen, Reformen – egal welchen Inhalts. Diesem Trend ist eben auch die katholische Kirche in ihrem letzten Sozialwort erlegen. Das können Sie schon an der Überschrift erkennen: Das Soziale neue denken. Das ist Unfug. Man muss nicht das Soziale neu denken, sondern das Neue sozial denken.

Noch mal: Welche Kräfte könnten den Kapitalismus bändigen?

Die Regierungen und die politischen Parteien in Europa. Die CDU ist die Mutter der sozialen Marktwirtschaft. Die müsste sich an die Spitze der Bewegung stellen. Und die Kirche sollte den verstorbenen Papst Johannes Paul II. mit seiner Kritik an den Exzessen des Kapitalismus ernst nehmen. Und dann haben wir Organisationen wie Attac, die eine große Rolle spielen können.

Sie haben die Gewerkschaften in Ihrer Aufzählung nicht erwähnt.

Die Gewerkschaften gehören auch zu den Gegenmächten.

Die Gewerkschaftsführer waren diese Woche beim Kanzler.

Die Gewerkschaftsführer müssen sich endlich entscheiden, ob sie für die Arbeitnehmer da sind oder für die SPD. Leider muss man den Eindruck haben, dass ihnen die Versöhnung mit der SPD wichtiger ist. Aber wenn sie weiter zusehen wollen, wie ihnen die Leute wegrennen, dann müssen sie mit dieser Politik der Anpassung an die SPD nur so weitermachen.

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