: Zwanzig Jahre deutsche EinheitEin Ort wie ein Knast
Eine Spurensuche im Norden der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Heute: die Festungsstadt DömitzGRENZERFAHRUNGEN (IV) Einst war Dömitz von einem 16 Kilometer langen Grenzstreifen umgeben. Das DDR-Regime wollte verhindern, dass die Einwohner in den benachbarten Westen flüchten. Nun ist die Grenze weg und die Stadt verwaist. Vor allem die Radtouristen halten die Stadt im Elbetal wirtschaftlich am Leben
Als Endpunkt der Müritz-Elde-Wasserstraße ist Dömitz besonders für Radtouristen ein Erlebnis.
■ Festung: Die im 16. Jahrhundert gebaute Burg beherbergt das Museum der Stadt. Weitere Infos: ☎ 03 87 58/ 224 01
■ Wanderdüne: Die Erhebung im Naturschutzpark Elbetal ist fast 30 Meter hoch und zwei Kilometer lang. Infos bei der Naturparkverwaltung: ☎ 03884/ 762 48 40
■ Touristen-Information: Rathausplatz 1, ☎ 038758/ 221 12
VON UTA GENSICHEN
Dömitz ist ein Traum für jeden Radwanderer. Die Landschaft am südlichsten Zipfel Mecklenburgs ist flach und weit. Unendlich lange Radwege führen durch die Wälder des Naturparks Mecklenburgisches Elbetal, an Äckern und auf Hochwasserschutzdeichen entlang. Die Elbe ist ein Segen für diese Gegend und lockt jährlich tausende Touristen an.
Die Nähe zur Elbe – zu DDR-Zeiten war sie ein Fluch. Weil am gegenüber liegenden Ufer niedersächsisches Hoheitsgebiet beginnt, war Dömitz jahrzehntelang eine der bestgesichertsten Städte der Republik. Niemand durfte ohne Erlaubnis hinein, niemand ohne triftigen Grund hinaus. Besucher mussten Wochen im voraus einen Einreiseantrag stellen. Wer nicht Verwandter ersten Grades war, hatte keine Chance, nach Dömitz zu kommen. Zum Schutz vor Eindringlingen und „Ausbrechern“ wurde um die Stadt herum eine 16 Kilometer lange Grenzanlage errichtet. 30 Jahre lang trennte sie die Dömitzer vom Rest der DDR und vom benachbarten Westen.
In dem fünf Kilometer langen Grenzstreifen standen mehrere Zäune, Signalanlagen, Wachtürme und eine Hundelauftrasse. Nach der Wende wurde das Bollwerk abgerissen. Im Heimatmuseum aber, das in der 700 Jahre alten Festung untergebracht ist, steht noch ein Stück des alten Grenzstreifens. Der Unrechtsstaat ist hier zum Greifen nahe. Fast drei Meter hoch ist das Mauerelement, das von einem Dickicht aus rostigem Stacheldraht gekrönt wird.
In Vitrinen neben dem zur Schau gestellten Zaun liegen weitere Erinnerungsstücke an die Zeit vor der Wende. Zum Beispiel die Werbebroschüre für Rattantruhen des VEB Korbwaren. „Dömitz linen trunks for high pretensions“, steht auf dem vergilbten Papier. Wie die Mauer existiert auch dieser Betrieb schon lange nicht mehr. Die Wirtschaftszweige in und um Dömitz sind überhaupt sehr übersichtlich. Ohne die Touristen gäbe es für die etwa 3.500 Einwohner kaum eine wirtschaftliche Perspektive. Viele junge Leute verlassen die Stadt, um im nahe gelegenen Hamburg einen Job zu finden.
Auch die mittlerweile erwachsenen Kinder von Gerd Völkel sind weggegangen. Der 58-Jährige besitzt einen Laden für Uhren und Schmuck. Seine Angestellten hat er nach der Wende entlassen müssen; das Geschäft führt er jetzt alleine. Viel ist nicht los. Besonders in der Mittagszeit ist die Stadt wie ausgestorben. Gerne zeigt Völkel deshalb das eigentliche Schmuckstück seines Fachwerkhauses: die auf dem Innenhof gelegene Scheune. Die habe er selbst abgerissen und wieder aufgebaut, sagt er. „Die Kommunisten wollten mir erst die Genehmigung nicht geben“, erzählt Völkel aufgeregt. Trotzdem hängt in seiner Scheune neben alten Weckern und staubigen Jagdtrophäen die DDR-Flagge mit Hammer und Zirkel. „Irgendwo hier hab ich auch noch die rote Fahne“, sagt er und schaut suchend an die Decke.
Kurz darauf steht Völkel wieder vor seinem Geschäft und beobachtet das überschaubare Markttreiben auf dem Kirchenplatz gegenüber. Dieser hieß früher Ernst-Thälmann-Platz. Nach der Wende wurde er nach dem in Dömitz geborenen Reformator Joachim Slüter benannt. Die nahe gelegene Lenin-Allee heißt heute Werderstraße.
Die Vergangenheit lässt Dömitz trotz solcher Veränderungen nicht los. Vor allem der Leerstand zeugt davon, was einst war und noch nicht ist. Im alten Kaufhaus soll seit zehn Jahren nichts mehr verkauft worden sein. Auch das Kino am Kirchenplatz ist geschlossen. Meisen haben sich im Eingangsportal eingenistet und zirpen laut. Kaum eine Straße, in der Häuser nicht zum Verkauf angeboten werden. Ungeklärte Eigentümerverhältnisse, nuschelt ein älterer Mann. Schon seine Eltern hätten hier gelebt, sagt er. Arbeitslos sei er, um wegzugehen sei er aber zu alt. Er zieht an seiner Zigarette und fährt mit einem klapperigen Fahrrad davon.
Es ist kein Fahrrad wie sie die Radtouristen fahren, die hier täglich die Stadt passieren. Ganze Gruppen mit ihren Trekkingbikes radeln die Elbe entlang, machen am Dömitzer Hafen Halt oder verschnaufen für eine Weile in einem der vielen Cafés, die sich auf das Geschäft mit den Touristen eingestellt haben.
Viele Besucher zieht es in das 2004 eingemeindete Dorf Rüterberg. Auch das benachbarte Dorf an der Elbe war jahrzehntelang von einem Grenzzaun umgeben. Die Bewohner durften nur mit einem Passierschein ihren Ort verlassen oder betreten. Aus Protest gegen die Isolierung riefen die Rüterberger am 8. November 1989 die Dorfrepublik aus. Noch heute weht auf fast allen Dächern des 150-Seelen-Ortes deren Flagge. Das Wappen auf blau-gelb-grünem Grund zeigt einen goldenen Ritter, der mit gezogenem Schwert auf seinem weißen Ross über einen Fluss springt.
Dömitz schaffte den Sprung über die Elbe erst 1992. Damals wurde an die Stelle der alten Eisenbahnbrücke, die einst Hamburg mit Berlin verband, eine etwa einen Kilometer lange Straßenbrücke gebaut. Die Bahnbrücke war 1945 durch einem Luftangriff zerstört worden und wurde danach nie wieder aufgebaut. Ein Wahrzeichen der Wiedervereinigung soll die blaue Stahlbrücke sein. Bis die Schatten der DDR aber endgültig verschwunden sind, werden noch einige Jahre ins Elbetal ziehen.
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