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Parade, Pomp und Peinlichkeiten

Zu den Feiern zum 60. Jahrestag des Siegs über Nazideutschland reisen mehr als 50 Staatschefs nach Moskau. Die baltischen Präsidenten bleiben jedoch fern oder nehmen nur unter Protest teil, weil Russland die Okkupation des Baltikums verteidigt

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

Die Vorbereitungen zum 60. Jahrestag des Sieges über den Hitlerfaschismus laufen seit Wochen auf Hochtouren. Gekehrte Straßen, Blumenständer und Plakate im Stil des Sowjet-Agitprops schmücken die Einfallstraßen der Hauptstadt. Das schwer bewachte Zentrum wurde für die Bürger mehrere Tage gesperrt. Die Stadtverwaltung empfahl den Siegern und ihren Enkeln, für die Zeit einen Datschabesuch außerhalb der Stadt. Nichts soll das Wohlbefinden der über 50 erwarteten Staatsgäste stören. Neben US-Präsident George W. Bush kommen Chinas Staats- und Parteichef Hu Jintao, Frankreichs Präsident Jacques Chirac, Japans Premier Junichiro Koizumi, Bundeskanzler Gerhard Schröder, EU-Kommissionschef José Durão Barroso und UN-Generalsekretär Kofi Annan.

Auf dem Weg vom Flughafen grüßt sie das Transparent „Glory to our brothers in arms“. Auch ein des Englischen mächtiger russischer Bürger kann damit wenig anfangen. Denn in der offiziellen Geschichtsschreibung des „Großen Vaterländischen Krieges“ wird der Beitrag der Alliierten zum Sieg bis heute nur in Fußnoten erwähnt. Der Kreml legt jetzt großen Wert auf Harmonie. Dabei ist das Ereignis mehr als ein Jubiläum. Russlands politische Elite inszeniert sich selbst. Der Rückgriff auf die Geschichte und den Glanz der Sieger soll auch der Kreml-Riege Legitimation verleihen.

Der Versuch des Kreml, die viele Prominenz zu nutzen, um die eigene Sicht des Krieges als einzig gültige Wahrheit darzustellen, sorgte im Vorfeld für Proteste der baltischen Staaten. Estlands und Litauens Präsidenten reisen nicht nach Moskau. Auch Lettlands streitbare Präsidentin Vaira Vike Freiberga schloss sich dem Protest an, nimmt an der Feier aber teil. Die Balten verlangen, dass Moskau die Einverleibung des Baltikums als Okkupation und den Molotow-Ribbentrop-Pakt, in dem Deutschland und die Sowjetunion 1939 die Aufteilung Polens und des Baltikums besiegelten, als völkerrechtswidrig anerkennt. Das rief Proteststürme in Moskau hervor.

Diplomatisches Geschick braucht auch Präsident Bush. Es heißt, Moskau nicht vor den Kopf zu stoßen, den historischen Fakten aber Genüge zu tun. In einem Brief an die baltischen Staatsoberhäupter unterstrich er, das Ende des Zweiten Weltkrieges sei der Beginn einer widerrechtlichen sowjetischen Annexion der baltischen Staaten gewesen. Überdies trifft Bush zuvor heute in Riga mit den Präsidenten Lettlands, Litauens und Estlands zusammen.

Moskau denkt nicht daran, Teilungspakt und Okkupation zu verurteilen. Erst kürzlich rechtfertigte Präsident Wladimir Putin den Pakt als notwendig zur „Sicherung der Staatsgrenzen und der Staatsinteressen“. Der dem Kreml nahe stehende Berater Wjatscheslaw Nikonow wies die Forderungen der Balten als unerhört zurück. Moskau müsse ihnen wohl wieder zeigen, wer das Sagen habe. Ohne Moskaus Zustimmung hätten die Balten 1991 die Souveränität nicht erlangt, meinte der Enkel Wjatscheslaw Molotows.

Eine öffentliche Debatte gab es in Russland darüber nicht. Dazu fehlt auch die Voraussetzung. Die tatsächliche Kriegsgeschichte kennen nur wenige Fachleute, deren Stimmen nicht gehört werden. Sie würden für Dissonanzen im patriotisch-nationalistischen Chor sorgen, den der Kreml anstimmt.

Auch Polen und Japaner hätten noch Fragen zu Moskaus Verhalten im Krieg. Dazu reicht die Zeit aber nicht. Die westlichen Staatschefs dürften froh sein, schnell wieder abzureisen. Denn auch Weißrusslands Diktator Alexander Lukaschenko und Vertreter Nordkoreas gehören zu den Gratulanten.

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