: Pulver verschossen
Russlands Präsident Putin braucht 1945 als Legitimation für 2005. Denn sonst hat er nichts mehr zu bieten – seine autokratische Modernisierung ist gescheitert
Noch einmal feiert Russland jenen großen Sieg des 8. Mai. Dabei geht es nicht allein um die Erinnerung. Die aktuelle politische Führung im Kreml möchte an Ruhm und Verdienst der Kriegsgeneration teilhaben. Der Brückenschlag in die Vergangenheit soll jene Legitimation bereithalten, die sich der Kreml durch eigene politische Leistung nicht beschaffen kann. Daher rührt jener obsessive Bezug auf die Vergangenheit und die Anstrengung des Kreml, Josef Stalin als tadellosen Feldherrn, Sieger und makellosen „Vater der Völker“ zu präsentieren. Sinn der Inszenierung ist die Botschaft, dass Präsident Wladimir Putin dieses Erbe antritt und die Kontinuität sichert.
Dieser Rückgriff auf die Geschichte verrät auch, dass Putin im sechsten Jahr seiner Amtsführung dem Land keine zukunftsweisende Vision anzubieten hat. Moskau feiert den 60. Jahrestag des Sieges, während sich das Regime an allen innen- und außenpolitischen Fronten in der Defensive befindet. Dabei hatte die Regentschaft vielversprechend begonnen. Das Volk lag Putin zu Füßen. Es bejubelte den Tschetschenienkrieg, mit dem er sich in die Herzen bombte. Die Bürger hatten auch nichts gegen die Verheißung einzuwenden, die wackligen Fundamente der Demokratie durch eine „Vertikale der Macht“ zu ersetzen und der „Diktatur des Gesetzes“ zum Durchbruch zu verhelfen. Auch der Westen, von der voluntaristischen Amtsführung des Vorgängers Jelzin enerviert, begrüßte die Entschlossenheit des KGB-Zöglings zum Durchgreifen, versprach er doch Stabilität und Ordnung.
Die Bilanz fällt nüchtern aus. Erstmals seit dem Ende der Sowjetunion rangiert Russland auf dem Demokratieindex von „Freedom House“ unter den unfreien Ländern zusammen mit Togo, Ruanda und Pakistan. Dies könnte hinnehmbar sein, wenn im Gegenzug die versprochene Ordnung, Stabilität und Berechenbarkeit tatsächlich gefördert worden wären. Doch auch dies ist nicht eingetreten. Im Gegenteil: Willkür und Korruption der Staatsdiener haben ein bislang ungekanntes Ausmaß erreicht. Statt Tschetschenien zu befrieden, droht der brutale Feldzug den gesamten Kaukasus in Brand zu setzen. Im russischen Kernland gehört indes die Terrorangst zum Alltag. Nach Umfragen unabhängiger Meinungsforscher glaubt mehr als die Hälfte der russischen Bürger, die Politik habe einen falschen Weg eingeschlagen.
Den Abbau demokratischer Institutionen, die Gleichschaltung der Presse und die Aufhebung jeglichen Systems von „checks and balances“ auch im föderalen Staatsaufbau rechtfertigte der Kreml mit der Stabilisierung des vermeintlich maroden Staates. Am Ende dieses Unternehmens steht nun keine demokratische, sondern eine autoritäre Konsolidierung, die ausschließlich auf die Figur des Präsidenten zugeschnitten ist. Putin stützte sich dabei auf überholte Modernisierungstheorien, die davon ausgehen, dass wirtschaftliche Restrukturierung nicht mit demokratischen Mitteln zu erreichen ist.
Doch längst ist erwiesen, dass autoritäre Regime zwar anfangs durch Konsumverzicht hohe Investitionsraten sichern können, bei der Produktivität aber weit zurückfallen. Korruption, Vetternwirtschaft und hemmungsloser Bereicherungsdrang der Staatsdiener führen in solchen Regimen langfristig in die Stagnation. Russland ist an diesem Punkt angelangt. Das kontinuierlich sinkende Wachstumstempo lässt sich nur noch durch exorbitante Einnahmen im Öl- und Gasgeschäft kaschieren. Die Umrisse eines „nuklearen Petrostaates“ zeichnen sich ab.
Derartige Systeme sind aus eigener Kraft nicht reformfähig. Russlands Elite ist mit der Umverteilung zu ihren Gunsten beschäftigt und mit der Sicherung des Machterhalts vollauf ausgelastet. Überdies wütet im inneren Zirkel ein erbitterter Kampf um die Filetstücke der Wirtschaft, der die Regierung handlungsunfähig macht. Und in den Provinzen hat die Affäre um den enteigneten Yukos-Milliardär Michail Chodorkowski allerlei Nachahmer gefunden. Auch dort reißt die Bürokratie lukrative Unternehmen an sich. Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten: Im ersten Quartal 2005 erreichte die Kapitalflucht mit 19 Milliarden Dollar einen Rekord.
Die Politik des Kreml zeigt verheerende Folgen und bewirkt das Gegenteil dessen, was eigentlich beabsichtigt war. Durch die Sozialreformen Anfang des Jahres brachte der Kreml zunächst die Pensionäre, seine treuesten Wähler, gegen sich auf. Die Bankreform führte das Misstrauen der Russen gegenüber Geldinstituten in neue Höhen. Außenpolitisch verscherzte es sich Putin mit der Ukraine und der von Georgien abtrünnigen Republik Abchasien.
Die Machtfülle des Präsidenten hat die Zentrale manövrierunfähig gemacht. Heute ist der Kremlchef schwächer als sein Vorgänger Boris Jelzin. Der duldete in seiner Umgebung – schon um des Machterhaltes willen – plurale Interessen. Ihm fiel es leichter, Schuld zu delegieren. Putin hingegen fiel einer engstirnigen und visionslosen Entourage zum Opfer, die nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist und den Chef beim Wort nimmt.
Damit ist er zuständig für alles, was im Reich geschieht. Fatal, dass mittlerweile auch die Bürger dieses realitätsferne Versprechen ernst nehmen. So paradox es ist: Diese Vorstellung vom omnipotenten Präsidenten wird dadurch belegt, dass seine Popularität schwindet. Auch die Suche nach Sündenböcken bietet keine Entlastung, denn in einem hyperzentralisierten System käme dies dem Eingeständnis des eigenen Unvermögens gleich.
So verlegt sich der Kreml auf Patriotismus, Nationalismus und neoimperialistische Attitüden. Dies wird unterfüttert mit Verschwörungstheorien, die im Westen den Urheber allen Übels sehen. Dabei ist das System im Interesse des Selbsterhalts auf den Westen als Rohstoffkunden und Technologielieferanten angewiesen. Daher rührt auch der Widerspruch zwischen dem liberalen Exportregime und der autoritären Herrschaft im Inneren.
Doch Putin ist nicht schizophren. Nur hat er als Hoffnungsträger und Staatschef sein Pulver verschossen. Meint die Geschichte es gut mit Russland, könnte er als letzter Potentat in die Annalen eingehen, der nochmals vergebens versuchte, das Reich mit traditionellen autokratischen Methoden zu modernisieren.
Sein Projekt ist gescheitert, was auch die verunsicherte politische Elite spürt. Furcht geht um, das Gespenst der „orangenen Revolution“ könnte auch Moskau erreichen. Für einen demokratischen Umsturz stehen in Russland zurzeit aber noch keine gesellschaftlichen Akteure bereit. Wahrscheinlicher ist indes, dass der schwächelnde Kremlchef einer Palastrevolte der Sicherheitsorgane zum Opfer fällt. Sie könnten sich auf den Mob und nationalistische Kräfte stützen, die unter den Fittichen des Kreml heranwuchsen und inzwischen flügge geworden sind. Ihr Credo ist simpel: Moskau möge den radikalen und chauvinistischen Losungen endlich Taten folgen lassen.
KLAUS-HELGE DONATH
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen